Alltagsattraktionen. Jan Lipowski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jan Lipowski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634614
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das Stärkere ist. Morgen ist der 8. März, an dem ich meine Liebste doch beeindrucken wollte. Bekanntermaßen ist es stetes Ziel der Männer (möglichst viele) Frauen zu beeindrucken, aber ich beabsichtigte dies sogar in einem mir weitgehend fremden Terrain zu wagen. Ja, ich hatte mir vorgenommen, mich einer Herausforderung am Herd zu stellen!

      Ich bin wahrlich kein Küchenprofi, denke aber belustigt an eine Studentenparty zurück, bei der die weit unkundigere Gastgeberin ein Glas Gurken nicht aufbekam und dazu meinte: „Ich hasse Kochen!“

      Doch fremdes Elend hilft nicht weiter. Ich wollte eine lecker-süße Überraschung zaubern, zudem meine (ebensolche) Liebste tatsächlich etwas Nervennahrung brauchte und damit zur eigentlichen Geschichte.

       Meine Liebste kämpft mit Ihrer Diplomarbeit und wird sich in den nächsten Wochen wohl nicht dem Krimi widmen können, den ich ihr am Morgen zum Frauentag geschenkt habe. Sie sitzt hinter einem Bollwerk aus Fachliteratur am PC, ich höre Serien von Mausklicks, vereinzelte Unmutsäußerungen und nur selten die Tastatur. Wahrscheinlich recherchiert sie im Internet und kommt nicht recht voran.

      Wettermäßig gibt sich der Internationale Frauentag keinerlei Mühe, Niesel hängt in der Luft, alles grau in grau, also ist es an mir, einen kleinen Farbtupfer zu setzen. Wegen der Kommerzialisierung von Valentinstag & Co. schenke oder überrasche ich lieber antizyklisch, doch heute tut eine Stimmungsaufhellung wirklich Not.

      Bereits letztes Wochenende wollte ich ihr das Zentralgestirn des k.u.k.-Mehlspeisenhimmels kredenzen, was jedoch am fehlenden Mehl gescheitert war. Ehrlich gesagt hatte ich seit meinem Einzug eine Tüte im Küchenschrank, doch da waren mittlerweile kleine, braune Pünktchen drin, die sich langsam bewegten. Kein gutes Mehl! Und dass gerade diese zentrale Zutat in meinem Singlehaushalt jahrelang keine zentrale Rolle spielte, unterstreicht das Wagnis meines Vorhabens! – Aber laut meiner Arbeitskollegin soll ja so ein Kaiserschmarrn kinderleicht sein. Sie hatte mir auch gleich eine Internetadresse mit dem Rezept geschickt und sich amüsiert, als ich mich nach dem Stand der Technik des Trennens von Eiweiß und -gelb erkundigte. – Es wäre noch wie zu Großmutters Zeiten.

      Nachdem ich mir bei meiner Nachbarin eine Tüte Mehl geborgt habe, rufe ich selbstbewusst über den Bücherberg, dass es in 20 Minuten eine leckere Überraschung gibt, verziehe mich mit meinen Notizen in die Küche und beginne mit dem Teig. 125 Gramm Mehl, 500 ml Milch… – ich mustere die abgemessenen Mengen, also das kann nicht sein! Ich hab’ vom Backen keine Ahnung, aber das wird viel zu dünn. Warum hatte ich bloß das Rezept nicht ausgedruckt!?

      So hole ich mein Notebook in die Küche und surfe drahtlos ins Netz. Auf der Kochclub-Seite finde ich das Rezept von Melaniebrit wieder, daneben ihr Foto (eine attraktive Frau, der ich spontan eher wenig Erfahrung in der Küche zutraue) und sogar einen Portionsrechner. Okay! »Zutaten für 1 Portionen«, klick! – „62 g Mehl, 250 ml Milch, 1 großes Ei, 1 Packung Vanillezucker…“ und so weiter, daneben erscheint ein Werbebanner für ein Singleportal. Aha! »Zutaten für 2 Portionen«, klick! „125 g Mehl, 500 ml Milch, 4 mittlere Eier, 2 Packungen Vanillezucker…“ daneben Reklame für eine Seitensprungagentur. Oha! »Zutaten für 3 Portionen«, klick! „188 g Mehl, 750 ml Milch, 3 große Eier, 3 Packungen Vanillezucker…“ und eine Bannerwerbung, die junge Familien anspricht. Nun gut. »Zutaten für 200 Portionen«, klick! „12,5 kg Mehl, 50 l Milch, 200 große Eier, 200 Packungen Vanillezucker…“ und Werbung für einen Großmarkt. Irgendwie hatte alles System, doch es war immer zu viel Milch!

      So würde das kein Teig werden. Also suche ich im Internet nach weiteren Rezepturen: Wiener Kaiserschmarrn, Vollkorn-Kaiserschmarrn mit Zwetschgenröster, Apfel-Kaiserschmarren… – ach Schmarrn! Die unterschiedlichen Rezepturen verwirren mich nur. Beschließe lieber beim Empfohlenen zu bleiben und einfach die Hälfte der Milch zu nehmen. Zudem hat diese Melaniebrit (beziehungsweise ihr Rezept) laut Nutzerstatistik immerhin 4 von 5 Sternen bekommen, wurde 2.455-mal gelesen und 700-mal ausgedruckt. Das wird doch hoffentlich nicht allein wegen dem Foto sein. Ich bekomme das schon irgendwie gebacken und überwinde auch die folgenden Hürden: Was ist eine Prise Salz? Was ist ein Ei mittelgroß? Wie verwandle ich den vorrätigen Würfel- in den benötigten Puderzucker? Was sind »Rosinen je nach Geschmack« und wie ziehe ich Eiweißschnee unter?

      Tja, die entstandene Masse sieht interessant aus. Unklugerweise gebe ich alles auf einmal in die Pfanne. Immerhin duftet es bald sehr lecker. – „Wie soll ich dieses Teil jetzt bloß wenden?“, überlege ich etwas zu laut. – „Zur Not kannst Du ja einen Kaiserschmarrn draus machen!“, tönt es hinter dem Bücherstapel. – Na klasse! Zur Not!!

       PS: Es war übrigens richtig lecker, nur vielleicht etwas zu wenig Milch … und mit Palatschinken hätte ich den absoluten Volltreffer bei ihr gelandet.

      Lust auf Figur

       … der vogelstimmengewürzte Spätmorgen versprach einen wundervollen Wintertag und ich versprach mir etwas vom Gang zum Briefkasten. Für Geburtstagspost war es noch zu früh und neben den obligatorischen Rechnungen fand ich einen kleinen grünen Zettel darin: „Lust auf Figur? Wir suchen Damen und Herren, die ernsthaft 5 bis 30 Kilogramm Gewicht reduzieren und auf Dauer halten möchten.“

      Fünf bis dreißig Kilogramm auf Dauer halten? Extrem abnehmen möchte ich keinesfalls, aber jenseits des magischen 30. Geburtstags sollen ja auch Figurprobleme lauern. Ich ordne mich irgendwo zwischen Waschbrett- und Waschbärbauch ein, doch mein schokoladenfarbenes Sündenregister ist sicher länger als all meine Weihnachtswunschzettel zusammengenommen. Falls die Redensart, dass die Summe aller Sünden eine individuelle Konstante ist, stimmt, kann ein vermehrter Süßigkeitskonsum so schlimm gar nicht sein und bei reichlich Bewegung soll es an Essen nicht fehlen. Die federleichten Blaumeisen am Futterhaus pickten jedenfalls Unmengen Körner in sich hinein.

      Ich beschloss, dass gewichtige Thema light zu nehmen. Aber die persönlichen Abweichungen von den griechischen Idealmaßen bringen mich ins Grübeln. Warum landete der Zettel ausgerechnet in meinem Briefkasten? Observation einer potenziellen Zielgruppe in unserer visuell dominierten Welt? Mein unsicherer Rundumblick im Hof – von den Meisen war plötzlich weder etwas zu sehen noch zu hören – erfasste nur einen Schatten am Briefkasten. Aber das vermeintliche Menetekel an der Hauswand entpuppte sich als die eigene Silhouette, welche mich ob ihrer recht grazilen Form sogar etwas beruhigen konnte.

      Hoffend, dass es sich um eine allgemeine Massenwerbung handelt, verschwand ich im Hauseingang und der Zettel in meiner Hosentasche. Abnehmen ist nicht mein wahres Problem. Vor gutem Essen sage ich manchmal eindringlich „Oberarm!“ zu den Filetspitzen der Nahrungskette auf meinem Teller – doch im Bizepsbereich kommt das verzehrte Muskelfleisch irgendwie nie so richtig an. Also ist eher eine Optimierung der Masseverteilung mein Ziel. Daher will ich aus Trainingsgründen beispielsweise meine Dachgeschosswohnung so oft wie möglich zu Fuß erreichen. – „… ob Hungern ohne Qualen…“, lese ich im Fahrstuhl weiter, „wir bieten Ihnen preisgünstige Körperfettanalysen und eine Zufriedenheitsgarantie rundherum. Weitere Informationen unter 0190…“ – Also das rundherum ist jedenfalls nicht besonders geschickt gewählt und an eine volle Zufriedenheit bei geringen Kosten kann ich in Verbindung mit der angegebenen Vorwahl schon gar nicht glauben. Da der Text tatsächlich mit Helena Hübsch unterzeichnet ist (Warum nicht gleich Maxi Schlanker?), erreiche ich mit einem Lächeln die fünfte Etage. Ein Zustand, der sich jedoch schnell ändern sollte, als mich meine Liebste mit Ihrer Samstag-Vormittag-Diagnose empfing: „Ich bin zu dick!“

      Nein, nicht ich – reine Selbstdiagnose. Ich bin verblüfft, zudem erscheint die Spannweite zwischen „dick“ und „zu dick“ für Männer nicht erfassbar. Und wie kann Letzteres eintreten, wenn Ersteres nicht einmal annähernd gegeben ist?

      Obwohl die Objektivität meines Einwandes rundheraus beziehungsweise schlankweg abgelehnt wird, verbuche ich den Ausbruch ihrer zyklischen Krise erleichtert irgendwo zwischen überspitztem Optimierungswillen und Phantasie. Frauen, die mit ihrer Figur zufrieden sind haben etwa die Häufigkeit eines ausbezahlten 20.000-EURO-Preisrätselhauptgewinns, an welchem man nicht einmal teilgenommen hat. Nun komme mir keiner damit, dass er schon derartige Ankündigungen im Briefkasten fand. Ausbezahlt! Und wer sich von seiner lieben Mutter eine 501