Anele - Der Winter ist kalt in Afrika. Marian Liebknecht. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marian Liebknecht
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847634409
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bin in einem kleinen Ort im Süden von Holland geboren, er heißt Chavenede und hatte damals vielleicht zweitausend Einwohner. Total spießbürgerlich ging es da zu, das kann man sich kaum vorstellen. Aber mit achtzehn kam ich dann nach Amsterdam zum Studieren. Dort hab‘ ich Bodenkultur angefangen, das hat mich immer schon interessiert. Ich hab mir gedacht, ich könnte irgendwann in den Süden gehen und Wein anbauen. Nach dem Abschluss habe ich dann Ausschau gehalten nach einem interessanten Job. Eine Weile konnte ich aber gar nichts kriegen. Dann hat sich die Möglichkeit in der Firma eröffnet, wo ich heute noch arbeite. Es war zwar nicht genau das, was ich immer machen wollte, aber es war zumindest gut bezahlt. He, sieh mal an, da führt jemand was im Schilde!“ sagte Piet, während er die Flasche entkorkte und einschenkte.

      Sie hatten beide die Eröffnung recht schnell gespielt und dabei erkannt, dass der jeweils andere tatsächlich einiges vom Schach verstand. Philipp hatte eine sehr offensive Eröffnung gewählt und Piet mit dem letzten Zug einiges aufzulösen gegeben.

      „Na, na, nur die Nerven bewahren“, erwiderte Philipp, „und wie bist du dann nach Österreich gekommen?“

      „Zunächst mal: Zum Wohl! Trinken wir einen Schluck!“ und sie tranken auf das Gelingen ihres Afrika-Projektes, das ihnen beiden im Grunde noch sehr unwirklich vorkam. „Na gut, wie bin ich nach Österreich gekommen?“, wiederholte Piet Philipps Frage, „Meine Firma hatte das Glück, gute Geschäfte zu machen und wurde immer größer, bis ihnen Holland zu klein wurde und sie mehrere europäische Niederlassungen eröffneten, unter andere jene in Österreich. Na ja, ich war schon immer interessiert gewesen, die Welt zu sehen, und da man mir die Vertretung in Österreich angeboten hat, habe ich nicht lange gezögert.“

      Während er redete, sah Piet auf das Brett und brütete sichtlich am nächsten Zug. „Aber sag mal, was hast du in deinem Leben bisher gemacht? Beim Kurs damals hat man ja nicht viel erfahren.“

      „In meinem Leben gibt es nicht viel Spektakuläres“, antwortete Philipp, „ich habe in Wien maturiert. Danach bin ich ein halbes Jahr nach Amerika gegangen und habe dort die Gegend unsicher gemacht. Als ich vor der Entscheidung stand, entweder zu studieren und noch mindestens vier Jahre meinen Eltern auf der Tasche zu liegen oder gleich selbst etwas zu verdienen, brauchte ich nicht lange zu überlegen. Meine Unabhängigkeit war mir immer schon heilig. Bald darauf fand ich eine aussichtsreiche Anstellung in der Bank, in der ich noch immer arbeite. Allerdings haben sich die Bedingungen seit damals entscheidend geändert. Mittlerweile haben die Mitarbeiter und ihre Anliegen überhaupt keinen Stellenwert mehr. Es zählen nur noch die Kennzahlen. Menschen sind zu reinen Kostenfaktoren geworden. In einem solchen Klima macht die Arbeit keinen Spaß mehr. Wenn ich daran denke, wie wir uns früher ins Zeug gelegt haben, wenn es darum ging, etwas auf die Beine zu stellen oder eine Sache zeitgerecht zu schaffen, da hat niemand auf die Uhr gesehen, sondern wir sind alle so lange geblieben, bis wir fertig waren, und wenn es bis Mitternacht dauerte. Das hat damals keine Rolle gespielt, und glaub‘ mir, es wurden längst nicht alle Überstunden, die wir geleistet haben, auch bezahlt. Damals war auf allen Ebenen Teamgeist und Zusammenhalt spürbar, den es jetzt nicht mehr gibt. Heute wird den Mitarbeitern nur noch Geringschätzung und Misstrauen entgegengebracht. Da können solche Gefühle wie Motivation und Begeisterung gar nicht erst aufkommen. Du musst entschuldigen, aber wenn ich davon anfange, geht es fast immer mit mir durch. Jetzt wirst du sicher verstehen, warum ich von dort weg möchte.“

      Piet hatte seinen Zug inzwischen gemacht und sagte: „Nur keine vornehme Zurückhaltung, die habe ich auch nicht. Ich verstehe dich da vollkommen. Meinst du, in meinem Unternehmen haben nicht auch schon längst die Kostenrechner und Rationalisierer das Kommando übernommen? Heute ist das leider so. Wenn man die Möglichkeit hat, wird man sich von so einer Firma verabschieden. Die meisten sind aber darauf angewiesen. Was würdest du machen, wenn du eine Frau und drei Kinder hättest. Dann könntest du dich nicht ohne weiteres auf so ein Afrika-Abenteuer einlassen, wie wir es vorhaben. Na, wie gefällt dir mein Zug?“

      Philipp sah sich Piets Antwort auf seinen vorhergehenden Zug an und erkannte, dass dieser damit alle Drohungen pariert und gleichzeitig einen Bauern zum Schlagen angeboten hatte, der, wie Philipp nach kurzem Nachdenken erkannte, nicht genommen werden durfte, ohne dass er selbst entscheidend in Nachteil zu geraten drohte.

      „Mir scheint, du hast nicht in der untersten Liga gespielt“, sagte er und überlegte seinen nächsten Zug sehr sorgfältig, da Piet offenbar auf einem Niveau spielte, das keinen Fehler erlaubte. Er hoffte, überhaupt mit ihm mithalten zu können.

      „Ein wenig Erfahrung habe ich“, sagte Piet auf eine Weise, die heraushören ließ, dass er sehr wohl um seine Spielstärke wusste.

      „Im Kurs hast du gesagt, dass du verheiratet warst, hast du auch Kinder?“ Als Philipp diese Frage stellte, glaubte er zu bemerken, wie Piet kurz zusammenzuckte, dachte aber gleich darauf, dass er sich getäuscht haben musste.

      „Ja, ich habe zwei Kinder“, sagte Piet etwas kurz angebunden, „warst du schon mal verheiratet?“ Philipp hatte das unbestimmte Gefühl, dass Piet das Gespräch von seiner Person weglenken wollte.

      „Ich bin geschieden, habe ich das nicht im Kurs gesagt?“

      Philipp hatte sich die Stellung sehr genau angesehen und schließlich einen vorsichtigen Zug gefunden, der seiner Meinung nach kein Fehler sein konnte. Aber nachdem er gezogen hatte, erkannte er sofort, dass Piet nun eine Möglichkeit hatte, sehr schnell in eine überlegene Stellung zu kommen und war sicher, jetzt auf der Verliererstraße zu landen. Zu seiner Überraschung verpasste Piet aber den Gewinn mit einem überhasteten Zug, was Philipp die Möglichkeit gab, recht einfach wieder in eine ausgeglichene Stellung zu kommen. Die Partie endete schließlich remis, ein Ergebnis, das Philipp eher schmeichelte.

      „Interessante Partie“, sagte Piet, „leider war ich zwischendurch unkonzentriert, ich hätte mehr daraus machen können.“

      „Ja, das glaube ich auch. Willst du noch eine spielen?“ fragte Philipp.

      „Etwas später vielleicht, noch einen Schluck Wein?“ Ohne die Antwort abzuwarten schenkte Piet nach.

      „Na, wie war das mit deiner Ehe? Viel hast du ja bisher nicht gesagt, Herr Schweigsam. Hast du Kinder?“ fragte er ziemlich direkt, was Philipp vor allem deshalb verwunderte, da Piet offenbar selbst Probleme hatte, über seine Ehe zu reden. Aber vielleicht war das eine Art Flucht nach vorne.

      „Ich habe ziemlich früh geheiratet“, begann Philipp, „und weiß bis heute eigentlich nicht, warum ich geschieden bin. Interessiert dich die Geschichte wirklich?“ Er nahm einen Schluck Wein.

      „Hätte ich sonst gefragt?“, antwortete Piet.

      „Ich habe geheiratet, als ich zwanzig war“, begann Philipp, „danach kam die schönste Zeit meines Lebens. Eheglück, bald darauf ein Kind. So ging es fast zehn Jahre. Dann wurde Sarah wieder schwanger.“

      „Sie hieß Sarah, wie unsere nette kleine Krankenschwester im Kurs“, bemerkte Piet.

      Philipp biss sich auf die Zunge, dass ihm der Name heraus gerutscht war, ließ sich aber nichts anmerken.

      „Ach ja, richtig. Also, ich werde nie verstehen, warum sie dieses zweite Kind nicht wollte. Ab dem Zeitpunkt, als sie es erwartete, wurde sie ganz anders als vorher. Man konnte nicht mit ihr reden, jedes Gespräch endete in grundlosen Streitereien. Und dann hat sie etwas getan, das ich nie verstehen werde. Eines Abends hat sie mir plötzlich eröffnet, dass sie abgetrieben hat. Ich habe geglaubt, meinen Ohren nicht zu trauen, habe sie gefragt, warum sie nicht vorher mit mir geredet hat, da es ja nicht nur ihr Kind war, sondern auch meines. Aber sie hat sich nur eingesperrt und geweint. Ab diesem Zeitpunkt ist sie nachts nicht mehr zu mir ins Schlafzimmer gekommen, sondern hat im Gästezimmer übernachtet. Im Grunde haben wir seither nicht mehr geredet. Sie sagte mir nur noch, dass sie sich scheiden lassen wolle, die Bedingungen seien ihr egal. Ich habe der Scheidung schließlich zugestimmt, obwohl ich nicht wusste, wie mir geschah. Es wäre auch sinnlos gewesen, sich dagegen zu wehren, nach einiger Zeit der Trennung ist die Scheidung ohnehin nicht zu verhindern. Unsere Tochter Julia blieb bei mir. Meine Frau hatte nichts dagegen.“ Er nahm noch einen Schluck Wein, da er nichts mehr zu sagen wusste. „Tja, das war meine Ehe,