Die Suche. Antje Babendererde. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Antje Babendererde
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738070446
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sie sammeln hier Holz und irgendwelche Pflanzen.“ Er hob die Schultern. „Wenn die Kollegen den See abgesucht haben, gibt es hier für uns erst einmal nichts weiter zu tun.“ Der Inspektor gab dem indianischen Beamten einen Wink, dass er ihm folgen sollte.

      Canyon trat von einem Bein auf das andere, um nicht im aufgeweichten Waldboden zu versinken. Ihre teuren Schuhe waren längst ruiniert.

      „Steven hat also zuletzt hier gespielt“, wandte sie sich an den Vater des vermissten Jungen und versuchte, dabei nicht vorwurfsvoll zu klingen. Objektivität, Sachlichkeit, Gelassenheit, die drei obersten Regeln in ihrem Beruf.

      Wenn man so wenig über einen Fall und seine Beteiligten informiert war, wie sie in diesem Moment, dann war es besser, sich neutral zu verhalten und den Eltern nicht gleich mit verletzter Aufsichtspflicht zu drohen. Von Robert Lee Turner, ihrem Chef, hatte sie nur erfahren, dass ein neunjähriger Indianerjunge verschwunden war. Es gab eine Akte über Jem Soonias und seinem Sohn, doch Canyon hatte keine Zeit gehabt, sie einzusehen, denn Robert Lee hatte sie unverzüglich losgeschickt.

      „Sein Name ist Stevie, Miss“, korrigierte sie der Indianer. „Und er spielt immer hier.“

      Canyon sah sich um und versuchte herauszufinden, was ein Junge von neun Jahren alleine hier draußen spielen konnte. Vor ihnen lag dieser kleine See, dessen Wasser grün von Algen war. Sonnenstrahlen warfen winzige funkelnde Lichtpunkte auf seine glatte Oberfläche, über die schillernde Libellen im Zickzackflug glitten. Wasser zog Kinder magisch an, das war kein Geheimnis. Aber Dog Lake, die Siedlung, in der Stevie mit seinem Vater lebte, lag an einem großen See, das hatte sie auf der Karte gesehen. Der Junge hatte das Wasser vor seiner Haustür und hätte nicht erst hierher kommen müssen, um geschnitzte Rindenboote auf ihre Tauglichkeit zu testen oder eine selbstgebaute Angel auszuwerfen.

      Canyons Blick machte einen Bogen. Es war ein sonniger, warmer Tag gewesen, trotzdem glitzerte noch Feuchtigkeit in den Gräsern, Moosen und Flechten am Boden. Sie sah beige, feinverzweigte Gebilde wie Kugeln aus Schaum. Weinrote Moose, durch deren Geflecht sich die ersten Blätter von Orchideen schoben. Ein Birkenwäldchen verdeckte zur Hälfte den umgestürzten Baumriesen, dessen Wurzeln wie Arme von Waldgeistern in die Höhe ragten.

      Dahinter begann lichtlose Wildnis. Schwarzfichten, Douglas- und Hemlocktannen mit graugrünen Gespinsten in den Zweigen, die wie Bärte alter Männer aussahen. Ein Gebiet, in das keine Wege führten, zumindest keine sichtbaren. Ein Ort voller Geheimnisse und Magie. Canyon durchforschte ihr Gedächtnis: Wie war es, neun Jahre alt zu sein?

      In diesem Alter hatte man schon eine Menge gehört und gesehen und sich seine Gedanken darüber gemacht. Die Phantasie war stark ausgeprägt, aber in der Regel siegte die natürliche, noch nicht durch Erfahrung getrübte Neugier.

      Canyon erinnerte sich, wie sehr sie sich als Kind davor gefürchtet hatte, allein zu sein, obwohl ihre Welt damals noch in Ordnung gewesen war. Stevie dagegen hatte es nichts ausgemacht, hier draußen alleine zu spielen. Offenbar war er mit der Wildnis vertraut und fürchtete sich nicht vor ihren Bewohnern. Doch nun war er verschwunden.

      „Sie haben Ihren Sohn hier spielen lassen, Mr Soonias? Ganz allein? Wir sind fast zwei Kilometer vom Dorf entfernt!“ Ihre Stimme war schärfer geworden, eindringlicher. Jetzt wollte sie vorwurfsvoll klingen, um ihn aus der Reserve zu locken. Sie sah ihn an, aber sein Blick blieb unergründlich. Er war auf der Hut - genauso wie sie.

      „Er kam mit dem Rad hierher. Hinter der Wurzel hat er sich eine Höhle gebaut.“ Der Indianer antwortete nur widerwillig. Sie ging ihm auf die Nerven, das versuchte er gar nicht erst zu verheimlichen. Doch seine Abneigung galt nicht nur ihren unangenehmen Fragen. Canyon vermutete, dass mehr dahintersteckte. Vielleicht irgendetwas, dass sie wissen sollte, bevor sie schärfere Geschütze auffuhr.

      Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Es ist noch nicht mal acht. Vielleicht hat er ja mit seinen Freunden die Zeit vertrödelt. Sie wissen doch, wie Kinder sind.“

      „Mein Sohn ist ein sehr zuverlässiger Junge“, erwiderte Soonias. „Ich musste mir noch nie Sorgen machen, weil er nicht nach Hause kam. Wir wollten heute Nachmittag zusammen ins Kino gehen. Das hätte er auf keinen Fall versäumt.“

      „Kino?“, entfuhr es Canyon verwundert. Als sie Soonias ärgerlichen Blick sah, schluckte sie.

      Wie Jem diese versteckte Art von Überheblichkeit hasste. Als wären die kanadischen Ureinwohner in den Reservaten arme Wilde, an denen der Fortschritt vorübergegangen war und die deshalb noch in einer Art Steinzeit lebten. Aber er war zu durcheinander, um mit dieser Frau aus der Stadt über Vorurteile zu diskutieren. Was sie über Indianer dachte, interessierte ihn nicht. Er wollte nur seinen Sohn wiederhaben. Deshalb rang er sich eine Erklärung ab.

      „Im Kulturzentrum von Red Rock läuft Die Mumie II. In den Sommerferien gibt es dort manchmal Kinovorstellungen.“

      „Verstehe.“ Canyon nickte lächelnd. „Sie sagten, Stevie wäre mit dem Fahrrad hierhergekommen. Haben Sie oder die Polizei es gefunden?“

      Jem schüttelte den Kopf. „Bis jetzt nicht.“ Canyons Blick folgte seinem und wanderte hinüber zum See, wo Polizisten in einem Schlauchboot dabei waren, mit Stangen den Grund nach Stevie und seinem Fahrrad abzusuchen. Der See war flach, höchstens anderthalb Meter tief. Bis auf einen dunkelgrünen Fleck in der Mitte, wo Algen wuchsen, konnte man überall den sandig gelben Boden sehen.

      „Was denken Sie, Mr Soonias?“

      „Dass die Männer nichts finden werden“, antwortete er schroff.

      Vermutlich war es sinnlos, Jem Soonias zu fragen, weshalb er so sicher war. Der Indianer konnte oder wollte ihr nicht in die Augen sehen und auch nicht mit ihr reden. Er ließ sich nicht aus der Reserve locken und sagte kaum mehr, als unbedingt nötig war. Lag es nur daran, dass sie Mitarbeiterin des Jugendamtes war, oder hatte Soonias etwas zu verbergen?

      Canyon war keine Anfängerin mehr, doch in diesem Fall schien ihre Intuition sie im Stich zu lassen.

      „Können wir zu Ihnen nach Hause fahren?“, bat sie. „Ich würde mir gerne Stevies Zimmer ansehen und Ihnen gleich noch ein paar Fragen stellen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen einzuwenden.“

      Als einziges Zeichen seiner Zustimmung stiefelte Soonias los, dorthin, wo die Wagen auf einer Lichtung geparkt waren. Canyon folgte ihm. Morastiges Wasser drang in ihre Schuhe und verursachte beim Gehen schmatzende Geräusche. Als der Indianer schließlich stehen blieb, sah sie sich kurz um. Außer den beiden Polizeifahrzeugen und ihrem Dienstwagen konnte sie kein weiteres Auto entdecken.

      „Miles Kirby hat mich mit hier rausgenommen“, sagte Soonias, als hätte er ihre Gedanken erraten. „Ich kann auch laufen, wenn Sie Angst haben, mit mir in einem Wagen zu sitzen.“

      So ein Idiot! Plötzlich hatte Canyon ein klammes Gefühl in der Kehle. Sie fasste nach dem Türgriff auf der Fahrerseite ihres Dienstwagens und musterte Soonias schlammverschmierte Halbstiefel. Schließlich stieg sie ein und öffnete ihm die Beifahrertür. Sie startete den Motor und manövrierte den kirschroten Toyota durch Wasserlöcher und über Wurzeln in Richtung Schotterstraße. Der Wagen würde eine gründliche Reinigung brauchen, wenn sie erst wieder in Thunder Bay war. Und sie selbst auch. Canyon schwitzte und hoffte, dass ihr verstockter Fahrgast keine allzu feine Nase hatte.

      Soonias musste den Kopf einziehen, um nicht an die Decke des Toyotas zu stoßen, wenn Canyon durch die Löcher holperte. Er schien ins Grübeln versunken. Schwer zu ahnen, was er eigentlich dachte.

      Dranbleiben, Canyon. Versuch, sein Vertrauen zu gewinnen. „Sie erziehen den Jungen allein?“

      Jem Soonias blickte stur geradeaus, doch sie bekam eine Antwort. „Stevies Mutter starb bei seiner Geburt. Fruchtwasserembolie. Aber das wissen Sie doch längst alles. Damals wollte das Jugendamt mir meinen Sohn wegnehmen, weil ich mit seiner Mutter nicht verheiratet war. Ich habe einen Krieg gegen Ihre Behörde geführt.“

      Das ist es also, schoss es Canyon durch den Kopf. Daher diese unverhohlene Abneigung. „Und Sie haben gewonnen“, stellte sie fest.

      Sie dachte