Homo sapiens movere ~ gezähmt. R. R. Alval. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: R. R. Alval
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738097320
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mir fast das Herz stehen; ich umklammerte den Kasten noch fester. Huber klaubte ihn mir aus meinen tauben Fingern, die leicht zitterten. „Alles in Ordnung, Frau Sommer. Es wird für Sie zwar Konsequenzen nach sich ziehen, doch so schlimm wird es nicht sein. Ich verdächtigte Frauen ungern, aber ich tue nur meinen Job. Sie haben nichts zu befürchten. Holen Sie sich draußen einen Kaffee, trinken Sie ihn und gehen Sie dann zu Herrn Oberer. Keine Panik, er wird Ihnen schon nicht den Kopf abreißen.“ Da war ich mir nicht so sicher. Lieber würde ich mich vor ein Rudel Wölfe werfen, als meinem Chef gegenüber zu treten. Aber Huber hatte Recht. Ich konnte unmöglich hier sitzen bleiben und den Kopf in den Sand stecken.

      Wie schlimm sollte es schon werden?

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      Zwei Wochen später war ich nicht nur deprimiert, sondern kurz davor während meiner Arbeit vor Langeweile zu sterben. Meine Befürchtungen waren umsonst gewesen. Mein Chef hatte weder gebrüllt noch geknurrt noch sonst etwas getan. Er hatte mich lediglich indigniert angesehen, als wäre ich es nicht mal wert, dieselbe Luft zu atmen wie er. Ein einziger Satz war aus seinem Mund gekommen, der kälter hatte gar nicht sein können. „Ich bin von Ihnen enttäuscht, Frau Sommer.“

      Schön, ich war nicht gekündigt worden.

      Allerdings hatte ich auch nicht damit gerechnet, in eine andere Abteilung versetzt zu werden, in der ich mich mehr oder weniger auf das Abstellgleis geschoben fühlte. Auch dieses Büro war eine farbliche Augenweide. Grau, grau und grau. In verschiedenen Nuancen. Sogar der Schreibtisch und die Jalousien waren grau. Die Auslegeware war es sicher früher einmal gewesen, jetzt war sie einfach nur noch fleckig und starrte vor Dreck. Mein Job war nun noch trister als zuvor und in etwa so aufregend wie Fusseln anzustarren. Mein Zugang auf dem Laptop war derart eingeschränkt, dass ich weder spielen noch ins Internet gehen konnte. Einzig und allein das Programm zum Ausdrucken von Geburts- und Sterbeurkunden war verfügbar. Sämtliche Daten, die ich einzugeben hatte, wurden mir per Rohrpost übermittelt und ebenso leitete ich sie weiter. So wurde sichergestellt, dass ich keinerlei Kontakt zu irgendjemandem pflegen konnte.

      Höchstens zum persönlichen Hausgeist der Stadtverwaltung

      Falls es diesen gab, vermied er dieses triste Büro wie die Pest. Hier gab es noch nicht mal ein Telefon! Außerdem befand es sich im fünften Untergeschoss, so dass selbst mein Handy keinen Empfang hatte. Würde draußen die Welt untergehen, würde ich das erst nach Feierabend bemerken.

      Obwohl ich erst zwei Wochen hier arbeitete, spielte ich ernsthaft mit dem Gedanken zu kündigen. Früh aufzustehen fiel mir immer schwerer, weil mich absolut keine Herausforderung erwartete. Ebenso gut konnte ich in die Produktion gehen und mich an ein Fließband stellen. Oder daheim bleiben, was mir wesentlich verlockender erschien, wenn ich in zwei Wochen meine Traumwohnung bezöge. Ha, die ich mir nicht mehr leisten könnte, wenn ich kündigte.

      Gelangweilt blätterte ich durch das Magazin, das ich mir heute Morgen am Kiosk gekauft und schon komplett durchgelesen hatte. Allmählich wurde das zu einer Gewohnheit. Aber was sollte ich sonst tun, um die Zeit tot zu schlagen? Der Grund meiner Versetzung wurmte mich nach wie vor. Doch bisher war mir keine vernünftige Erklärung eingefallen. Die Akte von Weller-Opt war gesperrt. Welche Daten auch immer darin standen, ich hatte sie nicht in Erfahrung bringen können. Also hing meine Versetzung nicht mit dem – vermutlich brisanten – Inhalt der Unterlagen zusammen. Lag es einzig und allein daran, dass ich eine Akte gesucht hatte, ohne zu ahnen, dass mir der Zugriff verweigert werden würde? Freilich könnte ich mich mit Alisa kurzschließen. Aber ich hatte Angst, dass ich bei einer weiteren Befragung nicht mehr flunkern könnte, was die Bekanntschaft mit Alisa betraf. Deren Versicherung hatte sich übrigens schon bei mir gemeldet.

      Immerhin etwas.

      Doch es war besser, alles weitere nur schriftlich zu klären, ohne mit Alisa oder Briony Kontakt aufzunehmen. Trotzdem! Was war an Weller-Opt dran, dass schon allein die Suche nach seiner Akte mich in eine derartige Lage gebracht hatte? Nun, hier unten war ich ganz allein. Niemand kam vorbei oder beobachtete mich. Es war so still, dass ich – abgesehen von dem leisen Rascheln, wenn ich eine Seite umblätterte – nur meine eigenen Atemzüge hörte. Draußen auf dem leeren Gang war das nicht anders. Und ein weiteres Büro gab es hier unten nicht. Selbst um zur Toilette zu gehen, musste ich erst drei Etagen nach oben fahren.

      Was es hier unten allerdings gab, war das Archiv.

      Zwar noch eine Etage tiefer und sich über mehrere Etagen erstreckend, doch offiziell hatte ich dort nichts mehr zu suchen. Im Archiv befanden sich sämtliche Unterlagen, die sich nach den Revolutionen und teilweise auch schon davor angehäuft hatten. Für den Fall, dass die Technik einmal versagte.

      Wenn Weller-Opt schon in unserem System auftauchte, hieß das, dass ich im Archiv Unterlagen über ihn finden müsste. Selbst wenn er woanders gelebt hatte, was jedoch nur zuträfe, wenn er ein movere war. Nur aus diesem Grund, weil jeder movere verzeichnet wurde, egal wo in Deutschland er lebte, war das Archiv so verdammt riesig. Und zwar nicht nur in dieser Stadt. Die Akten enthielten nämlich höchstens ein oder zwei Seiten. Hauptsächlich Adressen, Fähigkeit, Namen, Geburtsdatum, eventuell das Sterbedatum, Familienstand und Nachkommen beziehungsweise angenommene Kinder. Aber es gab viele movere. Und alle mussten ihre Fähigkeiten offenbaren, was ich nicht unbedingt für richtig hielt.

      In meinen Augen waren movere nicht zwingend gefährlicher oder krimineller als ein normaler Mensch. Dabei fiel mir ein, dass ich Alisas Namen nicht angezeigt bekommen hatte, als ich nach Weller-Opt suchte. Sie war demzufolge ein gewöhnlicher Mensch und hatte ihren Wohnsitz nicht in unserer Stadt oder war zumindest noch nicht gemeldet. Ansonsten wäre sie vermutlich schon längst von jemandem befragt worden. So wie auch ich befragt worden war.

      Immerhin könnte es einen Zusammenhang zwischen ihr und dem mysteriösen Mann geben, auch wenn ich es selbst nicht so recht glaubte. Die Frage war nur, wie kam ich ins Archiv? Stimmte der Nummerncode noch, den ich bis vor kurzem nutzen konnte? Und rechtfertigte meine Neugier den Umstand, dass ich dafür definitiv in die Bredouille geriet, wenn ich entdeckt wurde?

      Nein.

      War mir egal!

      Ich wollte wissen, warum ich versetzt worden war, wenn ich den Inhalt der Akte doch gar nicht kannte und nach der Befragung mit dem Scanner offensichtlich war, dass ich in keinem Auftrag gehandelt hatte.

      Zwar würde das an meiner Situation nichts ändern und es entsprach auch nicht wirklich meinem Wesen, doch ich konnte meine innere Unruhe, dass irgendetwas nicht stimmte, nicht weiter verleumden. Allerdings musste mein Aufsuchen des Archivs gut geplant sein. Während meiner Arbeitszeit kam es überhaupt nicht in Frage. Nicht, weil ich soviel zu tun hatte, sondern weil eher das Gegenteil zutraf. Sobald eine Anfrage per Rohrpost bei mir ankam, musste ich diese umgehend bearbeiten, wofür mir etwa zehn Minuten zustanden. Ich müsste also nach dem Feierabend hier bleiben. Unbemerkt. Da hier unten niemand nach mir sah, dürfte das kein Problem sein.

      Wer sollte auch auf die Idee kommen, dass ich länger als nötig in diesem Kabuff versauerte?

      Blieb zu hoffen, dass das Büro nach Feierabend nicht kontrolliert wurde. Ich würde es einfach probieren und die erste Stunde nach Feierabend sitzen bleiben und abwarten, ob jemand nachsehen kam. Notfalls konnte ich immer noch behaupten eingeschlafen zu sein. Soweit hergeholt war das nicht.

      Denn ehrlich?

      Hier unten husteten noch nicht einmal die Flöhe.

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      Den Plan setzte ich Donnerstag, vier Tage später, um. Den Tag zuvor hatte ich in der Mittagspause getestet, ob das Archiv für mich noch zugänglich war. Ich war nicht weiter überrascht, dass der mir bekannte Nummerncode noch funktionierte. Schließlich hatte er sich die ganze Zeit, die ich hier arbeitete, noch nie geändert. Außerdem machte sich selten jemand die Mühe, das Archiv überhaupt aufzusuchen – es stand alles per Mausklick zur Verfügung.

      Für jeden; außer für mich.

      Ich schaute auf die Uhr. Es war doch tatsächlich schon zehn Minuten nach Torschluss. Ein wenig wollte ich jedoch noch warten, ehe ich mich nach unten begab. Nach noch weiter unten,