‚Wer ist diese Tote im Wohnwagen?’, fragte er sich immer wieder.
Als er vor dem Präsidium in seinen RS6 steigen wollte, hielt er inne. Er hatte noch einen Besuch abzustatten.
Kapitel 4
13. Dezember, 11:30
„Ich möchte gerne zu Raphael Ferkovic! Er sitzt in U-Haft“, sagte Gian Meyer eine halbe Stunde später zur Empfangsdame im Bezirksgefängnis in Pfäffikon ZH und legte seinen Dienstausweis auf den Tresen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal hier war. Es war wohl in seinen Anfängen als Kripochef gewesen.
„Kommissar Meyer“, sagte die Frau langsam, als sie den Ausweis musterte. Sie sah zu ihm auf.
„Zelle 15. Im ersten Stock!“, sagte sie und wies ihm den Weg.
Meyer steckte seinen Ausweis wieder ein und ging durch die Gänge, welche in gewissen Abständen von Patrouillen bewacht wurden. Nur die Wachmänner erinnerten Meyer daran, dass er sich in einem Gefängnis und nicht in einem Spital befand.
Meyer war zum Hauptbahnhof gegangen und mit der S3 nach Pfäffikon gefahren. Da das Winterthurer Gefängnis überbelegt war, wurde Raphael nach Pfäffikon gebracht, wo er eine enge Einzelzelle bewohnte. Vanessas Vater wiederum wurde vom Haftrichter in einem Schnellverfahren zu lächerlichen 2 Jahren Haft in der Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf verurteilt, während Raphael immer noch auf seinen Prozess wartete. Meyer zog es vor, sich eine Kugel in den Kopf zu donnern als dieses Inzestmonster zu besuchen, obwohl es ihm Dr. Göhner mehrmals aufgetragen hatte.
Meyer vermutete, dass Raphael die Sonderbehandlung im negativen Sinn wegen seines ausländischen Nachnamens erhielt. Dabei trug seine Mutter den Namen Fischer und Raphaels Vater war bereits in der Schweiz geboren worden – und hatte die Staatsbürgerschaft auch schon seit er 3 Monate alt war. Traurig, dass sich – auch unterschwelliger – Rassismus in alle Branchen und Sphären verbreitet hatte.
Endlich hatte er den Zellentrakt mit der 15 gefunden. Er ging zum Büro des diensthabenden Wachmanns und legte seinen Ausweis abermals vor.
„Geht klar!“, sagte der Wachmann und Meyer erwartete, dass er einen grossen Schlüsselbund vom Brett nahm. Doch – Fehlanzeige. Der Wachmann öffnete die Tür zu seinem Büro und trat auf den Flur.
„Wo sind die Zellenschlüssel?“, erkundigte sich Meyer.
Der Wachmann sah den Kommissar an, als würde der vom Mars kommen.
„Geht alles elektronisch heute!“, grinste er.
Meyer nickte. Ist wirklich eine lange Zeit seit seinem letzten Gefängnisbesuch vergangen.
Nach einer Weile blieben die beiden vor einer grossen weissen Tür stehen. Sie war steril mit einer schwarzen 15 in Arial-Schrift beklebt. Durch ein kleines quadratisches Fenster konnte Meyer in die Zelle blicken. Es war tatsächlich Raphael. Mit gefaltenen Händen und gesenktem Blick sass er auf dem Holzstuhl im Biedermeier-Stil.
„So machen wir das heute!“, frotzelte der Wachmann und nahm eine elektronische Chipkarte, vom Format und vom Aussehen einer Kreditkarte ähnlich, aus der Tasche und hielt sie in einen Kartenleser neben der Tür. Auf dem Nummernblock mit neun Ziffern tippte der Wachmann, die tippende Hand mit der anderen abgedeckt, seinen Code ein. Sofort blinkte eine Lampe am Leser grün auf und ein Summer ertönte. Der Wachmann drückte die Klinge herunter und öffnete die Tür. Mit einem kurzen Wink liess er Meyer den Vortritt. Meyer betrat die Zelle, der Wachmann folgte ihm und schloss die Tür von innen. Er postierte sich neben die Tür, während Meyer auf Raphael zuging.
„Hallo Raphael“, sagte er leise.
„Guten Tag!“, antwortete der Junge, ohne aufzusehen. Die Hände hatte er immer noch gefaltet.
„Ich wollte nach dir sehen!“
„Gut!“
„Alles klar?“
Keine Antwort.
„Raphael? Alles klar?“
„Sie sind der erste, der mich besucht, Herr Kommissar!“ Raphael schaute auf. Seine Augen waren gerötet. Er hatte wieder geweint.
„Was?“ Meyer drehte sich zum Wachmann an der Tür um. Der nickte stumm.
„Es ist so. Meine Eltern waren nie hier, Larissa sowieso nicht!“
„Wer ist Larissa?“, fragte Meyer.
„Meine Schwester!“
Dem Kommissar kam das hellbraune Holzschild mit der Inschrift in Raphaels Wohnung in den Sinn.
„Aber jetzt bin ich hier!“, sagte er versöhnlich.
„Na und?“
„Gefällt es dir hier?“
„Man hat hier nicht mal einen Computer!“ Die Bemerkung war fast ironisch.
„Du wirst einen bekommen! Dafür sorge ich!“ Meyer drehte sich zum Wachmann um, der wild mit dem Zeigefinger wedelte.
„Sicher schon!“, zischte Meyer leise in Richtung Tür und der Wachmann erstarrte wieder zur Salzsäule.
Der Kommissar beugte sich zu Raphael nieder und sah ihm direkt in die Augen.
„Sprichst du jetzt über die Tat?“
Raphael schüttelte den Kopf.
„Ich kenne Dr. Göhner. Ich werde dafür sorgen, dass du nicht eine allzu hohe Strafe bekommst!“ Der Junge hatte eine psychische Blockade.
„Ich brauche ihr Mitleid nicht, verdammt noch mal! Ich wollte helfen, aber ich bin der Verarschte!“, schrie Raphael und verpasste Meyer eine glatte Ohrfeige.
Überrascht von Raphaels Frontalangriff packte Meyer dessen Hand und hielt sie fest.
„Mach das nicht noch mal!“, knurrte der Kommissar. „Ich bin der vielleicht einzige Freund, den du auf dieser Scheiss-Welt hast!“
„Gehen Sie bitte!“, brachte Raphael hervor und riss die Hand aus Meyers Griff los.
Meyer zuckte mit den Schultern, stand auf und ging wortlos an dem Wachmann vorbei an die von ihm geöffnete Tür.
„Wieso zur Hölle musste alles, wirklich alles an diesem verfluchten Scheiss-Tag auch schief gehen?“, zischte Meyer leise und tritt gegen einen Abfalleimer aus Plastik, der ein wenig verloren im Flur stand.
Er hätte sich selbst ohrfeigen können, selbst noch als die S3 am Gleis 23 im unterirdischen Bahnhof Museumstrasse im HB anhielt und Meyer aus seinem Viererabteil aufstand, um auszusteigen. Wieso hatte er den Jungen wieder unter Druck setzen müssen.
Meyer fuhr mit der Rolltreppe vom Bahnsteig ins Zwischengeschoss. Er hastete Richtung Shopville, und vollzog vor der Buchhandlung Barth eine 180°-Grad-Drehung, um auf die Rolltreppe zum Seitenausgang an der Löwenstrasse/Postbrücke zu gelangen, als das Telefon klingelte.
„Ja?“, meldete sich Meyer. Die Nummer kannte er nicht. Eine Ostschweizer Vorwahl.
„Hier Alters- und Pflegeheim Schloss Eppishausen, Erlen, Walter, guten Tag!“, antwortete eine Frauenstimme.
Meyer wusste sofort, was los war. Sein Herz zog sich vor Schmerz regelrecht zusammen.
„Herr Meyer, es tut mir leid, aber ihre Mutter, Seraina Meyer, ist gestorben! Ich bitte Sie, herzukommen!“ Die Befürchtung hatte sich bewahrheitet.
Ohne eine Antwort zu geben, beendete Meyer den Anruf und ging zur Rolltreppe. Ihm war leicht schwindlig. Er schaute auf die Uhr. Knapp nach halb eins. In etwa fünf Minuten würde ein InterRegio in Richtung Konstanz fahren. Gut. Aufs Autofahren hatte er in dem Zustand keine Lust.
Gedankenverloren