„Schön möglich!“ Espinoza zuckte mit den Schultern. „Wir führten eine extrem offene Beziehung. Denn, solange einer von uns mit einem anderen Sex haben kann, ohne was zu empfinden, dann spricht das für unsere Liebe!“
Plötzlich kam einer der Beamten des Forensischen Dienstes ins Zimmer. In seinem Gummihandschuh hielt er ein weisses Blatt Papier. Er steckte es in ein Klarsichtmäppchen und reichte es Meyer.
„Lesen Sie mal, Herr Kommissar.“
Meyer begann die roten Buchstaben zu lesen.
Hallo Schwuchtel
Ich weiss, dass du ihr Geheimnis weisst. Deshalb bist du in grosser Gefahr
„Was ist das?“, fragte Steiner verwirrt.
„Sieht nach einem Drohbrief aus“, erkläuterte Meyer und sah den Spurensicherungsbeamten an. „Übergeben Sie das Dr. Furrer“
Der Beamte nickte.
„Was sagst du dazu?“, fragte Meyer seinen Kollegen, als sie aus dem Haus traten.
„Eine Prostituierte und ein Homosexueller. Das passt irgendwie gar nicht zusammen!“
Steiner grinste. „Wer weiss? Vielleicht hat einer eine Leiche im Keller?“
Sie fuhren in Meyers RS6 zur Kasernenstrasse und betraten das Präsidium. Fräulein Roggenmoser hatte anscheinend Feierabend gemacht, denn der Empfangsposten war verwaist.
Sie gingen ins Grossraumbüro im dritten Stock und setzten sich an einen Computer.
Meyer fuhr den Apparat hoch und schaute auf einen kleinen Notizzettel, den Espinoza ihnen überreicht hatte. Er bestand aus den Kennwörtern von Gerbers Gmail-Konto und vom Facebook-Profil.
Meyer durchschaute seinen Posteingang, doch er fand nur Werbemüll vor. Die meisten Mails hatte Gerber bereits unwiderrufbar gelöscht. Die meisten Einträge stammten von einem René D. – so war der Kontakt verzeichnet – der mit Gerber zusammen wohl den nächstjährigen Christopher Street Day-Anlass in Zürich organisieren wollte.
„Na dann, halt Facebook!“, grunzte er.
„Hast du was dagegen?“, wollte Steiner wissen. „Du lebst so was von hinter dem Mond!“
Meyer lachte. „Ich hab was dagegen, wenn meine Privatsphäre zerstört und alle meine Daten ohne meine Einwilligung zu Werbezwecken verwendet werden!“
Steiner sagte nichts. Er war zu müde, um dem zu widersprechen.
Die Anmeldeseite war geöffnet. Der Kanton hatte veranlasst, soziale Netzwerke wie Facebook zu sperren, da viele der Angestellten mehr Zeit damit als mit der Arbeit verbrachten. Glücklicherweise hatten sie die Sperre noch nicht überall eingeführt.
Meyer meldete sich unter Gerbers Namen an und die Startseite erschien. Der Kommissar klickte auf den Profilreiter. Meyer schaute aufs Profilbild.
„Kennst du den?“, fragte er Steiner und wies auf das Profilbild.
„Klar, Gerber! Das macht man hier, sein eigenes Foto veröffentlichen und nicht irgend so ein Avatar wie in diesen Foren!“ Gerber lag, in einen samtroten Bademantel gekleidet, auf einem mit gelber Bettwäsche überzogenem Bett.
„Nein, ich mein den daneben!“
Daneben lag ein älterer Mann, ebenfalls einen samtroten Bademantel tragend. Beide lächelten in die Kamera.
„Ach du Scheisse!“, entfuhr es Steiner und er fuhr sich durchs Haar. „Das ist ja Franz Gutzwiler!“
„Genau der, der immer mit schwulenfeindlichen Äusserungen auf sich aufmerksam gemacht hatte, ist selber homosexuell!“
„Ja, Alex und Gutzwiler hatten eine Affäre“, erklärte fünfzehn Minuten später ein aufgewühler Carlos Espinoza. Meyer hatte ihn sofort ins Präsidium zitieren lassen.
„Wurden Sie nicht eifersüchtig?“, erkundigte sich Meyer und stütze den Kopf in der rechten Hand ab. Seine Blicke kreuzten Espinozas.
„Nein. Wie ich Ihnen bereits gesagt hatte, waren Alex und ich zwei Polygamisten, die es gegenseitig toleriert haben, da unsere Liebe gestärkt wurde!“
„Hatten Sie nie Angst, dass es mehr werden könnte?“
Espinoza schüttelte den Kopf. „Nein, Alex hätte es mir gesagt, wenn er sich in einen anderen Mann verliebt hätte!“
„Okay!“, Meyer zog die Vokale in die Länge. „Konnte es sein, dass Alexander Gerber mehr für Franz Gutzwiler empfunden hatte und sie deshalb eifersüchtig wurden?“
Die Tatsache, dass es bereits ein Opfer gab, verschwieg Meyer.
„Nein, sicher nicht. Alex hätte es mir gesagt. Und ich habe Alex nicht getötet, ich habe ihn gefunden, als er schon tot war!“
„Wo waren Sie heute zwischen 12 und 16 Uhr?“, wollte Steiner wissen. Er liess immerzu einen Kugelschreiber in seinen Fingern zirkulieren.
„Ich war bei René“, antwortete der gebürtige Spanier Espinoza.
„René D.?“ Meyer kam der E-Mail-Kontakt in den Sinn.
Espinoza nickte. „Ja. Er, Alex und ich organisieren den Christopher Street Day im 2011!“
„Wieso war Alex nicht beim Treffen dabei?“
„Wissen Sie“, der Spanier wand sich verlegen, „das heute war kein berufliches Treffen.“
Meyer verstand. „Sie fühlen sich also zu diesem René D. angezogen.“
Espinoza nickte. „Schon seit geraumer Zeit“
„Wie heisst er zum Nachnamen?“
„Das weiss ich nicht. Er gibt nur wenig von seiner Persönlichkeit preis.“
Meyer seufzte und Steiner warf den Kugelschreiber auf den Tisch.
„Sie können gehen!“, sagte Meyer. „Und wir machen Feierabend!“, fügte er hinzu, als Espinoza den Raum bereits verlassen hatte.
Es war viertel nach sechs, als nach überraschend kurzer Verspätung von 15 Minuten der Airbus A319 der Air France aus Kiew beim Fingerdock des Terminals 2A am Flughafen Roissy–Charles de Gaulle andockte.
Menevoie wartete in der Ankunftshalle auf seine menschliche Fracht. Er wusste, dass jede der jungen Frauen ein kleines Foto mit seinem Konterfei auf die Reise mitbekam. Offiziell waren die jungen Damen zu beruflichen Zwecken nach Frankreich geladen wurden und Menevoie sollte ihre Betreuungsperson darstellen. Die „Betreuung“ bestand darin, sie an Zuhälter zu verkaufen und als Test in der ersten Nacht nach der Ankunft zu vögeln. Diejenigen, die nicht gut genug waren, wurden generell bewusstlos gemacht und in den Canal St-Martin gestossen, wo sie ertranken.
Auf diese Zeremonien hatte Menevoie jedoch keine Lust, er beschloss, die fünf jungen Frauen noch heute Abend zu verkaufen. Wie er wusste, hatte ein Zuhälter aus Avignon Interesse bekundet. Sollte der sich seine Zeit mit den Nutten totschlagen. Die Rhône war für die „Entsorgung“ weit besser geeignet als der Canal St-Martin, zumal sich die Leichenfunde an diesem auffällig häuften. Die ganze St-Martin-Geschichte hatte eine gewisse Ironie, zumal Menevoies Lieblingsbuch Georges Simenons Maigret et le corps sans tête war. In diesem Roman wurde just aus demselben Kanal eine kopflose Leiche geborgen, auch wenn dieser Mensch aus anderen Umständen zu Tode gekommen war.
Endlich erblickte er sie. Die fünf jungen Frauen kamen in staksigen Schritten auf ihn zu. Alle trugen Schuhe mit hohen Absätzen und trotz der winterlichen Temperaturen gar Hotpants. Eine von ihnen schien Menevoie erblickt zu haben, denn sie sprach was und zeigte in seine Richtung.
Sie kamen auf ihn zu.
„Monsieur Menevoie?“, fragte eine in schlechtem Französisch. Menevoie