„Wie du meinst!“, sagte Steiner und entriegelte den Wagen.
„Wann hast du sie zum letzten Mal gesehen?“, fügte er hinzu.
„Was?“, fragte Meyer.
„Die Kinder?“
„Letzte Weihnachten, war das, glaub’ ich. An ihren Geburtstagen telefoniere ich jeweils.“
„Wo leben sie denn?“
„Bei Gertrud immer noch in Oerlikon. Aber die weigert sich, mir Einlass in die Wohnung zu geben. Die Geschenke kommen Sie dann bei mir jeweils am 25. Dezember abholen, oder wir sehen uns in einem Café.“
„Scheisse, oder?“ Steiner schaute seinen Kollegen mitleidig an.
Meyer nickte. „Das kannst du laut sagen!“
Er atmete tief durch. Durch die Kälte bildeten sich Wasserdampfwölkchen vor Meyers offenem Mund.
„Aber das kann ich auch nicht ändern. Gertrud sitzt da am längeren Hebel!“, fügte er seufzend hinzu.
Eine Zeit lang schwiegen sich die beiden Ermittler an.
„Na dann!“ Steiner stieg ein und startete den Motor. Dann liess er noch die Scheibe herunter.
„Kannste sonst zu mir und Melinda, am 24., wenn du nichts zu tun hast!“, sagte er.
Meyer zuckte mit den Schultern. „Mal sehen!“
„Bis morgen!“
Steiner fuhr los.
Meyer ging durch die Hauptbahnhof-Unterführung zur Bahnhofstrasse. Die Weihnachtsbeleuchtung – ‚Lucy’ genannte nach unten ragende Fäden, an denen viele Lämpchen wie Schneeflocken hingen – hing seit Mitte November über den Strassen und schied, alle Jahre wieder, die Geister der Stadtbevölkerung. Immerhin war sie beliebter als die Vorhergehende, die aus senkrecht vom Himmel ragenden Neonbolzen bestanden – da hatte es fast Krieg in der Stadt gegeben. Da es noch hell war, waren die Leuchten noch nicht eingeschaltet. Obwohl es ein stinknormaler Montag – zwar im Dezember – war, herrschte grosses Gedränge. Zahlreiche Menschen, vor allem Frauen, hasteten die Strasse entlang, kamen aus einem oder verschwanden in einem der zahlreichen Läden. Vor nicht wenigen Geschäften hatten die Betreiber Holzbänke aufgestellt, auf denen sich Männer im Nikolauskostüm niedergesetzt haben und den Kindern mit Mandarinen, Schokolade und Erdnüssen gefüllte Jutesäckchen als Geschenk überreichten. Immer wieder hörte Meyer, wie die Kleinen eifrig ihre gelernten Gedichte dem Mann mit dem langen weissen Bart vortrugen.
Am Löwenplatz vor dem Globus wurden in den letzten Wochen einige Holzhütten aufgestellt, in denen jetzt ein kleiner Weihnachtsmarkt abgehalten wurde. Meyer liess es sich nicht nehmen, durch die Reihe zu schlendern und den Duft von Lebkuchen einzuatmen. Doch kaufte er nichts, denn sein Bauchansatz sollte schnellstmöglich einen Abgang machen!
Beim Globus verspürte er heftigen Harndrang und stürzte ins Kaufhaus.
Als er die Tür zur Kundentoilette aufstiess, kamen unangenehme Erinnerungen in ihm hoch. Vor rund einem halben Jahr wurde die Kripo gerufen, da ein Mann in einer der Kabinen tot aufgefunden wurde. Soweit sich Meyer erinnern kann, wurde dessen Identität bisher nicht geklärt.
Nach dem erleichterten Pinkeln ging er über den Löwenplatz zurück zur Bahnhofstrasse.
Doch er ging wohl etwas zu eilig und sah die in der Kälte gefrorene Wasserlache nicht. Seine Schuhe begannen zu gleiten und Meyer ruderte wild mit den Armen, um sein Gleichgewicht zu suchen. Doch – er hatte keine Chance. Nach nur wenigen Sekunden erhielt er Rückenlage und knallte mit einem dumpfen Geräusch auf dem Hosenboden. Er fluchte. Eine Passantin mit etwa einem fünfjährigen Mädchen an der Hand hielt ihre Hände schützend über die Ohren der Kleinen, als Meyer loszeterte. Er erntete böse Blicke von der Mutter.
Ächzend richtete er sich wieder auf und wischte über den Hosenboden. Einen prüfenden Blick auf die Eisfläche – und er erblickte seine dunkelbraune Brieftasche auf dem Boden liegen. Meyer bückte sich, hob sie auf und machte sich aus dem Staub.
Bei der auf Rot stehenden Fussgängerampel vor der Uraniastrasse packte Meyer einen Notizzettel aus. Seine 18-jährige Tochter wünschte sich den neusten Roman einer der angesagten Teenie-Romanserien, sein 20-jähriger Sohn die neuste Version der Playstation.
Einkaufen! Das hatte er schon seit geraumer Zeit nicht mehr gemacht. Von Schaufenster zu Schaufenster zu rennen, war ihm ein Graus, mehr noch, er hasste es mehr als Sushi, und das mag was heissen. Mit Unbehagen erinnerte er sich an die ganzen Nachmittage, die er mit Gertrud in der Herrenmodeabteilung im Jelmoli verbracht hatte, als sie sich noch geliebt hatten und verheiratet waren. Dabei trug er die Hemden, die sie ihm jeweils ausgesucht hatte, heute noch.
Der Kommissar bog beim St. Annahof in die Füsslistrasse ein und betrat die Orell Füssli-Filiale am Kramhof, aus der ununterbrochen eine Klavierversion von Stille Nacht klang. Meyer empfand das Geklimper so, als hätte sich der Pianist mit seinem gesamten Allerwertesten auf die Tasten gesetzt und die Umwelt mit einem solchen Ohrenschmaus beglückt. Am Eingang der grossen Buchhandlung stand wie gewöhnlich ein Verkäufer der Zürcher Arbeitslosenzeitung. Sonst ignorierte der Kommissar die lästigen Anpreiser ihres Werkes; da es jedoch Weihnachtszeit war, besann er sich auf sein Herz und kaufte dem Mann ein Exemplar ab, vermutlich dessen einziges an jenem Montag. Meyer betrat das Erdgeschoss, spürte die Wärme der Ladenheizung und machte sich bereits auf einen Spiessrutenlauf auf Biegen und Brechen bereit, als er die Massen im Laden sah.
Glücklicherweise musste er nicht lange suchen, denn der Laden hatte bei der Belletristikabteilung im Erdgeschoss einen ganzen Tisch mit diesem angesagten Vampir-Mist ausgebreitet. Unzählige Autorinnen und Autoren versuchten auf den momentanen Erfolgszug aufzuspringen. Meyer erinnerte sich sentimental an die Zeiten, in denen sich Martin und Melanie noch den neusten Band der Harry Potter-Serie gewünscht hatten, Bücher, die er im März, als sie für die Kinder nicht mehr interessant waren, selbst verschlungen hatte.
Meyer schnappte sich das gewünschte Buch und überflog mit den Augen einen zweiten Tisch, der fast ausschliesslich mit den Bestsellern aus dem Krimi- und Thrillergenre belegt war. Hatte früher Dan Brown mit Sakrileg und Illuminati fast das Monopolrecht auf den Tisch, so war es in der heutigen Zeit der schon seit sechs Jahren verstorbene Schwede Stieg Larsson mit seiner Millenium-Trilogie, die derzeit wegen mehreren Verfilmungen in aller Munde war. Meyer hatte die Bücher längst gelesen, und war ihnen nicht gerade abgeneigt. Er war froh, das nicht im realen Leben zu erleben, denn das wäre für seinen Geschmack ein klein wenig zu abgefahren. Insbesondere jede Menge Schimpfwörter und vulgäre Ausdrücke konnte man lernen. Der 16-jährige KV-Lehrling der Buchhaltung schien sich gerade mit der ersten Folge der Romanserie zu befassen, denn er zitierte regelmässig die am Vorabend gelesenen Seiten.
Zuvorderst war eine kleine Beige CD’s mit Aufnahmen vom Kabarettisten Emil Steinberger, die in Nachbarschaft der grossen Buchtürme verloren schien.
Seufzend stellte er sich in die stets wachsende Schlange an der Kasse. Zuvorderst war eine Oma, welche mit Sonderwünschen über die Verpackung der Geschenke für die Enkelkinder einen riesigen Stau verursachte.
Als Meyer dran war, liess er das Buch ohne einen Kommentar schlicht einpacken, bezahlte und verliess den Laden.
In einer nahe gelegenen Interdiscount XXL-Filiale an der Sihlporte erstand er dann auch noch die Playstation der neusten Generation für Martin. Hier hatte er jedoch einige Mühe, denn der Verkäufer, den Meyer zur Beratung herbeigezogen hatte, wollte ihm jede Menge Zubehör andrehen.
Meyer lehnte jedes Mal dankend ab, liess es sich jedoch nicht nehmen, die Playstation eigenhändig an einem grossen Breitbildfernseher auszuprobieren. Er musste sich eingestehen, dass es doch nicht eine so schlechte Sache sei. Aber am meisten war für ihn der Preis wert, Gertruds Gesicht zu sehen, wenn Martin am Heiligabend das Geschenk seines Vaters auspacken würde.
Nach dem Kauf verliess er den Laden und überquerte die Sihl. Mitten auf der Sihlbrücke hielt er inne und schaute auf