Er nahm wohl den Mantel etwas zu eilig vom Haken, denn der hölzerne Hutständer schwankte bedrohlich, verlor schliesslich das Gleichgewicht und landete genau auf einer alten chinesischen Ming-Vase, die ein Antiquar vor drei Wochen unten in Oberrieden abgelehnt hatte. Blau/Weiss, die Farben von GC, dem FC Zürich und dem FC Luzern, gehörten bei ihm als leidenschaftlicher FC Basel-Fan nicht in den Laden. Meyer, der seit seinem Kreuzbandriss und dem Karrierenende bei der U15-Juniorenmannschaft des Churer Fussballvereins nicht gerade gut auf Fussball zu sprechen war und seit dem Auftreten des Basler Goldhühnchens Gigi Oeri dem Schweizer Klubfussball nicht einen feuchten Kehricht mehr abgewinnen konnte, war wieder abgerauscht.
Nun lag diese Vase in unzähligen Einzelsplittern auf dem Teppichboden. Meyer fluchte, drehte um und zerrte den Staubsauger aus dem Besenschrank. Als er den Stecker eingestöpselt hatte und den Sauger laufen lassen wollte, merkte er, dass die Steckdose Wackelkontakt hatte.
„Wie viel geht heute denn noch schief?“, knurrte er und steckte den Strecker um. Endlich!
Knirschend flogen die Porzellansplitter die metallene Röhre des Staubsauger-Ansatzes hoch.
Als Meyer merkte, dass er schon genug Zeit verloren hatte, liess er den Staubsauger Staubsauger sein und verliess die Wohnung.
Meyer stieg in seinen Audi RS6 – ebenfalls ein Zeugnis seines guten Einkommens und nebst der Wohnung der einzige geleistete Luxus – und startete den Motor.
Dreissig Minuten später – davon mindestens 18 im Stau – verliess Meyer in Wiedikon den Autobahnzubringer A3W und rollte an der Sihl entlang zum Kantonalen Polizeigebäude an der Kasernenstrasse. Er parkte den Wagen unmittelbar vor dem Eingang und trat ein. An der Kreuzung Manessestrasse/Schimmelstrasse, als Meyer vor einem Rotlicht warten musste, ging eine Gruppe von sechs Jugendlichen, kaum älter als 16, vom Trottoir auf die Strasse, um Meyers Wagen zu bestaunen.
Einer der Jugendlichen klopfte auf der Beifahrerseite an die Scheibe. Als Meyer den Kopf umdrehte, vollführte der Junge mit der rechten Hand eine Kurbelbewegung.
Meyer verstand, lehnte über den Beifahrersitz und liess per Knopfdruck die Scheibe herunter.
„Starke Karre, Mann!“, sagte der Junge und lächelte. „Oh Mann, sogar Ledersitze!“
„Danke!“, erwiderte Meyer, liess die Scheibe wieder hochfahren, blickte nach vorne und als er gesehen hatte, dass das Lichtsignal auf Grün gesprungen war, gab er Gas. Langsam bremste er und hielt er direkt vor dem Eingang des Polizeipräsidiums an der Kasernenstrasse 29, unweit vom Hauptbahnhof gelegen. Die Fassade war vergangene Freitagnacht von FCZ-Anhängern bei ihrem Streifzug durchs Langstrassenquartier mit blauen Schriftzügen versprayt worden.
Fräulein Roggenmoser, die ledig gebliebene, aber in die Jahre gekommene Empfangsfrau der Kapo Zürich winkte ihm von weitem entgegen.
„Kommissar Meyer, Kommissar Meyer! Kommen Sie! Kommen Sie“, keifte sie mit so lauter Stimme, dass alle im Foyer aufhaltenden Personen den Kopf in Richtung ihres Tresens drehten.
Als Meyer an den Empfangsschalter trat, übergab sie ihm feierlich ein mit Papier vollgestopftes Mäppchen.
„Alles klar, Herr Kommissar?“, fragte sie. Dieses Zitat des von ihr verehrten österreichischen Sängers Falco war ihr Markenzeichen. Eine im Präsidium kursierende Legende besagt, dass sich Fräulein Roggenmoser nach Falcos Unfalltod in der Dominikanischen Republik 1998 gleich für eine Woche krankschreiben liess.
Meyer lehnte sich lässig an den Tresen, packte das Mäppchen und blätterte rasch durch die Akten.
„Läck Bobby“, entfuhr es ihm, „so einen Papierkram. Wann wurde die Leiche gefunden?“
„Laut Ramon vor einer dreiviertel Stunde. Sie sind spät dran heute! Der Forensische Dienst ist bereits vor Ort!“
„Bereits so viel Altpapier nach 45 Minuten?“
„Naja, Ramon sagt, die beiden Beamten der alarmierten Stadtpolizei hätten einen genauen Beschrieb des Tatortes abgegeben!“
Meyer blätterte durch die Unterlagen. „Einen sehr genauen“, berichtigte er.
„Kaffee?“
Meyer hatte keine Gelegenheit, abzulehnen, denn Roggenmoser hatte, während die die Frage gestellt hatte, eine Tasse der dampfenden Moccabrühe auf den Tresen gestellt. Dankend nahm er einen Schluck und verbrühte sich fast die Zunge.
„Verdammt!“, fluchte er.
Fräulein Roggenmoser lachte.
Schweigend stellte er die noch halbvolle Tasse zurück und nickte zum Abschied.
Meyer entschied, den kurzen Weg zum Tatort zu Fuss zu absolvieren. Mit dem Wagen hätte er den Hauptbahnhof umrunden müssen, als Fussgänger konnte er diesen queren.
Während dem Spaziergang blätterte er den Bericht vom Fundort durch. Opfer ist eine junge Prostituierte, zwischen 18 und 25 Jahre alt. Aufgefunden in einem Wohnwagen. Ohne Papiere. Tod durch Messerstich – jedoch keine Spur von der Tatwaffe. Der Satz „Die Leiche wurde vom Vorgesetzten der Toten entdeckt“, liess Meyer zu einem Grinsen hinreissen.
„Zu verklemmt, um „Zuhälter“ zu schreiben, oder was?“, murmelte er leise.
Weiters enthielt der Bericht, dass beim ersten Überblick des Fundortes keine Papiere und sonstige Hinweise auf die Identität des Opfers gefunden wurden. Die Leiche ist mindestens seit ein Uhr in der Früh tot, so eine erste Blutanalyse.
Der Kommissar trat auf den Bahnhof Sihlpost zu. Linkerhand ragten rund zehn rote und gelbe Baukräne in die Höhe, welche Tag für Tag die Grossüberbauung Europaallee in den Stadtzürcher Himmel hochzogen. Zur Stunde waren die Arbeiten wieder voll im Gange, hunderte Bauarbeiter in ihren orangefarbenen Leuchtwesten kletterten über die Gerüste.
Meyer liess sich per Rolltreppe zur Passage Sihlquai hinunterbefördern, der westlichen Hauptunterführung des HB’s. Gähnend liess er hastende Reisende links überholen. Inmitten der Hauptverkehrszeiten herrscht hier stets ein grosses Gedränge, so auch an diesem Tag. Der Kommissar verzichtete auf ein Weiterlesen und konzentrierte sich stattdessen darauf, der hastigen Meute auszuweichen. Gelegentlich spürte er den Zusammenprall mit ausgefahrenen Ellenbogen und wäre beinahe über einen Barbie-Minirollkoffer eines kleinen Mädchens gestolpert. Bei jedem Aufgang zu einem Bahnsteig zeigten zwei blaue Zugzielanzeiger die Destination an. Man merkte, dass Zürich nicht nur national, sondern auch international ein Verkehrsknoten war, denn zwischen den Dialekten aus Bern, Wallis, St. Gallen oder Graubünden waren auch Brocken von Fremdsprachen zu verstehen. So fragte zum Beispiel ein Geschäftsmann auf Französisch nach den Abfahrtszeiten des nächsten TGV nach Paris. Sobald Meyer an einem Aufgang vorbeiging, drangen Wortfetzen zu ihm durch. „Nach Konstanz Gleis 7, nach Sargans–Landquart–Chur, Gleis 6, nach Stuttgart, Gleis 18“, und so weiter und so fort. Am Aufgang zum Bahnsteig mit dem abfahrbereiten InterCity nach St. Gallen stand ein hagerer Mann mit seitlich gekämmtem gräulichen Haar im weissen Hemd und einer weinroten Weste mit einem Glas Milch in der Hand und liess in seinem St. Galler Dialekt seine Umwelt wissen, dass er seine Mutter suche, die doch nur ein zweites Glas Milch für ihn holen wollte. Ein paar Reisenden drehten den Kopf zu ihm um, aber Meyer war sich sicher, sobald sie den Aufstieg zum Bahnsteig hinaufhasteten oder gar sich ins Gedränge um einen Sitzplatz stürzten, hatten sie den St. Galler und sein angeblich bemitleidenswertes Schicksal bereits wieder vergessen.
Erleichtert atmete Meyer auf, als er am Nordende des Bahnhofs vor der Rolltreppe auf Erdniveau stand. Er atmete zweimal durch, ehe er auf die Rolltreppe trat, die ihn nach oben brachte. Oben verliess er den Bahnhof am Kiosk beim Seitenbahnsteig Gleis 18 und grüsste zwei Beamte der Stadtpolizei, welche mit ihrem Schäferhund patrouillierten