HimbeerToni. Joachim Seidel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim Seidel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847612759
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du, dass ich demnächst 500000 Euro Schulden habe?«

      »’ne halbe Million, warum das denn?«, frage ich entsetzt.

      »Ich bau ’nen Back-Stopp; weißt du, ist wie ’ne Waschstraße, nur dass man hinten mit ’ner Tüte Brötchen wieder rausfährt.«

      »Drive-in für Backwaren finde ich gut, wo man doch heutzutage fast nirgends so was Exotisches wie Brötchen zu kaufen kriegt«, argwöhne ich.

      »Das genau ist das Problem. Das Grundstück liegt neben einer Tankstelle, und die verkaufen seit letzter Woche auch Brötchen, Croissants; was du willst. Und weißte, was ich bin?«

      »Gekniffen?«

      »Voll, Alter.«

      »Kannste den Banken nicht sagen, nee, danke, ich will eure Fünfhunderttausend jetzt nicht mehr? Ich hab’s mir anders überlegt?«

      Herr Blümchen schüttelt den Kopf.

      »Nee, Alter, das zieh ich durch.«

      So ist er, mein bester Freund. Starrköpfig und unbelehrbar. Ich überlege, wie viele Millionen Brötchen er backen muss, um von den Schulden wieder runterzukommen. Herr Blümchen wird unruhig.

      »Was steht denn heute an auf Kampnagel?«, ranzt er.

      »Blaskonzert.«

      »Blaskonzert ist immer gut«, erwidert Herr Blümchen, »apropos, wie läuft’s denn bei dir und Ada?«

      »Na ja. Es gibt da schon Neuigkeiten…«

      »Vögelt ihr ordentlich?«

      »Wir leben eher abstinent.«

      »Hört sich fast so an wie vor einem Jahr bei deiner Ex Judith und diesem Stephan, als sie schwanger geworden ist.«

      Ich schlucke. Der Vergleich trifft mich mit Wucht. Ich hatte Herrn Blümchen erzählt, wie froh ich damals war, dass dieser Schwangerschaftskelch an mir vorübergegangen und direkt an Stephan übergeben worden war. Und jetzt? Habe ich mit Ada denselben Salat.

      »Ab fünfunddreißig wollen die Weiber alle nur das eine: nämlich Nachwuchs.«

      »Du hast gut reden«, sage ich, denn Herr Blümchen ist dank einer Hoden-OP vor einigen Jahren eine taube Nuss.

      »Denk dran, Toni. Alles Schlampen außer Mutti. Und Punk rules.«

      Für mich steht jetzt felsenfest, ich werde weder Herrn Blümchen noch sonst jemandem an diesem Wochenende von meiner Vaterschaft erzählen. Altpunk, der sein Leben nicht im Griff hat, kriegt Kind, tolle Wurst, wie soll man da noch ausgelassen feiern? Holgi muss ich allerdings noch nachträglich zu absolutem Stillschweigen vergattern. Als ich das mit mir geklärt und für uns beide bezahlt habe, schlendern Herr Blümchen und ich die Lange Reihe runter zur nächsten Bushaltestelle. Von meinem jetzt permanent schmerzenden Schwanz sage ich sicherheitshalber auch nichts. Der 6er-Bus zum Borgweg rauscht an uns vorbei, aber hinterherrennen wollen und können wir nicht. Stattdessen schauen wir bei Sardo rein. Das liegt auf dem Weg, und ich kann sowieso an keinem Plattenladen vorbeigehen.

      »Nun erzähl schon, wo hast du gesungen?«

      Herr Blümchen ist vorausgeeilt und durchkämmt bereits die Sparte Filmmusik nach einem Vinyl-Exemplar des Repo-Man-Soundtracks. Er schaut mich an und sagt: »Alter, ich hab gestern vor dreihundert Bäckern gesungen, ohne Scheiß, und Hanna ist dabei die Bandscheibe aus der Verankerung gerutscht.«

      »Aber du kannst doch gar nicht singen.«

      »Deswegen ja. Ich fand das gar nicht komisch.«

      »Warum hastes dann gemacht?«

      »Ich wurde genötigt.«

      »Von dreihundert Bäckern?«

      »Und ich bin nicht mal Ralf König.«

      »Natürlich nicht!«, versuche ich Herrn Blümchen zu beruhigen, bin aber etwas besorgt über seinen Gesamtzustand. Dass er nicht gerne singt, weiß ich seit der achten Klasse, aber da hieß er auch noch nicht Herr Blümchen, sondern nur Carl und mit Nachnamen Blum. Herr Blümchen hält inne und sieht mich durchdringend an.

      »Hanna und ich waren beim Hessischen Bäckertag in Fulda, wo sonst nur Bischofssynoden und so stattfinden, und dort hat uns Herr König, der moderierende Motivationstrainer der Landesbäcker-Innung, zum Absingen von Froh zu sein, bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König gezwungen. Natürlich wurde ich auf die Bühne gebeten und habe die Gelegenheit nicht verstreichen lassen – angestachelt von Herrn König, der auch mit Vornamen so heißt wie der schwule Comiczeichner –, lauthals das gerade eben gehörte Lied als Vorsänger ins dargereichte Mikro zu singen. Okay, können sie haben, habe ich mir gedacht, und dann blökte ich statt ›Froh zu sein, bedarf es wenig‹ den in Bäckerkreisen kaum bekannten Vers ›Schwul zu sein bedarf es wenig, ich bin schwul und heiß Ralf König‹«.

      »Krass«, sage ich.

      »Was weiß ich, was in mich gefahren ist. Vielleicht war’s die Vorfreude auf unser Bandtreffen.«

      Ich grinse. Mit zwölf Jahren hatte ich meinen besten Freund zum ersten Mal singen hören. Danach hatte er aus dem Gesicht geblutet. Wir saßen in der Klasse nebeneinander, trugen Sandalen und gelbe Frotteehemden mit Kordelausschnitt, ich hatte eine hellbraune, er eine beigefarbene Feincordhose an. Herr Blümchen fuhr ein Bonanzarad mit High-Riser-Lenker und gold gesprenkeltem Bananensattel sowie nachträglich installiertem batteriebetriebenen Plastikmotor unterhalb der 3-Gang-Knüppelschaltung, der nicht für zusätzlichen Schub, dafür aber satten Sound sorgte.

      Ich hatte ein dunkelgrünes 26er-Herrenfahrrad, an dessen Vordergabel ein Stück Hartpappe mit Tesafilm befestigt war. Beim Fahren platterte das Stück Karton gegen die Speichen und verursachte Geräusche, die an einen laufenden Mopedmotor erinnern sollten. Dazu hatte ich einen Hochlenker mit Tacho, und dreifarbig gewickeltes Plastikband umspielte meine Bremszüge.

      Herr Blümchen war damals von Dr. Bärbraun, dem Musiklehrer, aufgefordert worden, seine Singstimme zum Einsatz zu bringen. Als Herr Blümchen weisungsgemäß tirilierte, sprang Bärbraun von seinem Hocker am Flügel auf und brüllte Herrn Blümchen nieder: »Du musikalischer Neandertaler, du!«

      Herr Blümchen aber sang ungerührt weiter, etwas flog ihm gegen den Kopf, und dann lag mein bester Freund auf dem Boden. Er schüttelte sich benommen, betastete die Platzwunde, die Bärbrauns Schlüsselbund an seiner Stirn hinterlassen hatte, und kaum jemand sollte Herrn Blümchen je wieder singen hören.

      »Darf ich das irgendwie verwenden?«, frage ich.

      »Nein«, sagt Herr Blümchen, der jetzt die Indie-Langspielplatten durchkämmt. Repo Man auf Vinyl war offenbar aus. Ich hatte mich derweil über die Punksingles hergemacht, in der Hoffnung, die eine oder andere Rarität günstig abzugreifen.

      »Künstlerpack! So seid ihr doch alle, erst feixt ihr euch einen auf anderer Leute Kosten, und abends hoch die Tassen, dicke Weiber aufreißen, dann schön pofen, und anschließend verbratet ihr das Ganze künstlerisch. Ich beneide dich um deine Schreiberei, Toni.«

      »Alter, ich geh auch arbeiten, ich verdien mein Geld als Redakteur, und niemand zwingt dich, tagaus, tagein in deine mehlige Schwitzstube zu gehen. Dein kaputter Fuß wird von dem Geacker auch nicht besser! Du brauchst irgend ’nen Ausgleich.«

      »Alter. Ich hab Abitur, aber sonst nix gelernt, ich schlag mir die Nacht um die Ohren für ’n Appel und ’n Ei, damit ihr Tagediebe morgens frische Brötchen habt. Ich sage dir, bei mir ist auch bald der Ofen aus. Ich will kein Mehlquäler mehr sein, ich werd Künstler.«

      »Und was wird aus deinem Back-Stopp?«

      »Scheiß auf Back-Stopp!«, sagt Herr Blümchen und betrachtet die Soundtracks zum Untergang 1 und 2. Ich nehme die erste LP der Ramones von 1976 in die Hand. 1-a-Zustand, aber mit zwanzig Euro zu teuer.

      »Ich schmeiß irgendwann hin den Dreck!«, pöbelt Herr Blümchen weiter, woraufhin ich eine spontane Vision verkünde: »Blüte Blümchen, der unmusikalischste