HimbeerToni. Joachim Seidel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim Seidel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847612759
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schreienden Saxophon- und wilden Klarinettenklängen über zweihundert Beats pro Minute und hat bisher noch jeden Saal zum Kochen gebracht. Prämiert mit dem deutschen Schallplattenpreis. Im Vorprogramm: Radulescu Ursu, Kosovo, politische Pantomime, Bauchreden, Akrobatik auf Stelzen. Okay, Bauchreden und Weltmusik im Punkrhythmus, obendrein mit dem deutschen Schallplattenpreis prämiert, das könnte, mit ausreichend Umdrehungen im Blut, durchaus ein weiteres Programm-Highlight unseres Revival-Bandtreffens werden.

      »Durchgeknallt, aber grundsympathisch«, kommentiere ich beim Runtergehen.

      »War mir klar, Horni. So ’ne Typen gefallen dir.«

      »Wie meinste das denn?«

      »Du warst früher auch so drauf.«

      »Vielen Dank, Holgi. Bist ’n echter Kumpel.«

      »Sach ma, kennst du diesen … Schangeleidt?«

      »Nee, Alter, Bullen kenne ich grundsätzlich nicht mit Namen.«

      »Was jetzt?«, will Holgi wissen, als wir ein Stockwerk tiefer in meiner Küche Platz nehmen. Ich blicke rüber auf die kalt verglaste Fassade des Bürokomplexes, in dem die Staples-Hauptverwaltung das Überleben des dahinter liegenden Kulturzentrums sichert. Fünf Stockwerke unter mir rauscht der Verkehr vierspurig dahin.

      »Plan ist: Ich hol Herrn Blümchen vom Bahnhof ab, und du, Holgi, sorgst für die angemessene Aufstockung unserer Biervorräte.«

      »Gebongt. Nachher bin ich noch auf Sendung. Muss mich dringend umziehen.«

      »Kannste gleich Werbung machen: Fünfundzwanzig Jahre Remo-Smash-Auflösungsparty im Schlachthof heute Nacht«, sage ich. »Beginn ist um elf, und unseren bekloppten Kosovaren auf Kampnagel kannste auch für heute Abend ansagen. Wir treffen uns bei mir um acht.«

      »Gebongt«, sagt Holgi schon wieder und geht rüber in seine Wohnung.

      Oben bei unserem Bauchredner bleibt es ruhig. Wahrscheinlich denkt er über sein neues Programm nach. Dann klingelt mein Telefon.

      »Judith, allerbeste, gute Freundin. Wie geht’s?«, säusele ich.

      »Ach, weißt du, Brunochen hat ganz schlimm Schluckauf, ich weiß gar nicht, was er hat.«

      Na prima, denke ich, mit drei Jahren Erziehungsurlaub im Rücken kann sie es sich leisten, mir die nächste halbe Stunde minutiös die Befindlichkeiten ihres sechsmonatigen Balgs runterzubeten. Judith ist nämlich nicht nur meine Ex, sie ist seit April verheiratet mit Brunochens Vater. Und Stephan ist IT-Heini drüben bei Staples. Manchmal sehe ich meinen Nachfolger von meiner Küche aus, wie er zum nächsten Meeting über die Flure hetzt. Er arbeitet auch an Wochenenden, und er passt, wie ich finde, gar nicht zu Judith.

      Na gut. Verstehen konnte ich Judith damals schon mit ihrem Kinderwunsch, als sie noch mit mir zusammen war; schließlich geht die Gutste auch schon schwer auf die vierzig zu.

      Ada, meine geliebte Geliebte und derzeitiges Problem Nummer eins, will zum Glück kein Kind. Das haben wir gleich zu Anfang geklärt. Davon abgesehen kann Ada sowieso keine Kinder kriegen, wegen irgendeiner Eileiterverklebung, was eine Befruchtung zu neunundneunzig Prozent verhindert.

      Als wir uns vor vier Monaten kennenlernten, hatte Ada gerade eine ›sehr körperbetonte Bekanntschaft mit einem exotischen Mann‹ beendet. Ich selbst stand damals an einer Art transzendentalem Wendepunkt meines Lebens. Ich war nämlich zu der glorreichen, aber für den üblichen Arbeitsalltag eines fest angestellten Lohnsklavenschreibers kaum nützlichen Erkenntnis gelangt, dass maximal die ersten fünfzehn Minuten im Büro ganz schön und gerade noch erträglich sind: also ankommen, grüßen und begrüßt werden, Kaffee holen, E-Mails checken und noch ein paar Minuten mit den Netten von der Kollegenschaft herumjuxen. Dann ist aber wirklich alles durchgehechelt, die Kaffeetasse leer getrunken, und – schon sind die ersten fünfzehn Minuten um. Wie oft wäre ich nur zu gerne ohne die sich anschließenden neun Stunden gleich wieder gegangen. Und weil ich mir das so von Herzen wünschte, kündigte mir der Chefredakteur meinen festen Vertrag. Seitdem mache ich dieselbe Arbeit frei auf Stundenbasis, ohne Urlaubsgeld und Lohnfortzahlung bei Krankheit, und das alles für zweihundertfünfzig Euro weniger im Monat. Dafür bin ich jetzt in der Künstlersozialkasse.

      Judith dagegen hat’s gut. Sie sitzt als gelernte Fotografin zu Hause mit Baby Bruno rum, und Stephan zahlt. Natürlich war sie mit Stephan gleich schwanger, kaum dass wir uns on-off-mäßig am Trennen waren.

      »Was ist das eigentlich für ein Geräusch im Hintergrund?«, frage ich etwas genervt. »Hört sich an wie ’ne Schmutzwasserpumpe.«

      »Die kluge Frau baut eben vor, hab gehört, ihr feiert heute.«

      »Stimmt, und ich hab echt viel um die Ohren«.

      »Ach. Und was?«, will Judith wissen.

      »Remo Smash feiert ab heute Split-Jubiläumswochenende, komm vorbei. Nachher ist Auftakt auf Kampnagel. Treffen um acht bei mir.«

      »Ich arbeite dran, Toni, du weißt ja, ich stille Bruno noch voll, und wenn ich bei euch abstürze…«

      »Musst ja nicht abstürzen, würd mich freuen, wenn du kommst.«

      »Altpunkparty ohne Absturz ist doch langweilig, Toni. Entweder ganz oder gar nicht.«

      Ich schaue auf die Uhr. »Judith, ich muss los, Herrn Blümchen abholen, außerdem schmerzt mein Schädel. Und seit ein paar Tagen leider auch mein Schwanz.«

      »Kein Wunder. Du säufst zu viel.«

      »Du meinst, mein Schwanz hat einen Kater?«

      »Woher soll ich das wissen, wahrscheinlich vögelt ihr wie die Karnickel.«

      »Ada und ich hatten seit einem Monat keinen Sex mehr.«

      »Dann vögelt ihr eindeutig zu wenig.«

      »Judith. Fragst du dich nicht auch manchmal: Was bleibt später mal von dir übrig?«

      »Toni. Die Sinnfrage stellt sich für mich nicht mehr.«

      »Wie biste denn dahin gelangt?«

      »Schaff dir einfach ein Kind an, Toni, das bleibt.«

      »Damit ich so ende wie du und Stephan. Nein, Judith. Mit was Bleibendem meine ich Musik, Kunst, Schreiben, etwas Großartiges eben.«

      »Toni, du steckst eindeutig in einer Midlife-Krise. Soll ich dir mal einen ehrlichen Rat geben?«

      »Nein!«

      »Such dir ’nen festen Job, und eier nicht weiter als Freier rum. Das wird dich auf andere Gedanken bringen.«

      »Das sagt Ada auch. Seit vier Wochen meckert sie in einer Tour an mir rum.«

      »Vielleicht hat Ada ihre Tage?«

      »Aber doch nicht einen Monat lang.«

      »Vielleicht ist es ja was Ernstes?«

      »Ada hat ’nen Termin bei ihrer Frauenärztin. Aber ich weiß nicht, ob die ihr helfen kann. Ohne Unterlass geht das seit vier Wochen: Toni hier, Toni da, dauernd hat sie was Neues an mir auszusetzen, und das trägt sie dann extra in breitestem Schwäbisch vor, weil sie genau weiß, dass mich das verrückt macht. Ich kann das jetzt auch schon. ›Toni, du hängsch dauernd in moir Wohnung ab. Geh doch rübr z dir. Sind doch nur 500 Medr. Und wenn du scho hir bischd: Siahsch nedd, dess dr Müllbeidl so auf koin Fall in den Mülleimr hinoighörd? Die Tüde muss undr den Henkl draa, siahsch, so, sonsch rudschd sie in den Eimr, und i muss den Dregg wiedr oisammeln. Muss man dir noh alls sage??‹ Ich sag dann: ›Ada. Sei mal ein bisschen locker. Das hätte ich schon noch gemacht.‹ Darauf sie: ›Wenn du scho den ganze Abnd hier abhängsch, kannsch ab jedzd bei mir arbeide, wo du sowieso dauernd moi Wohnung okkubiersch.‹ ›Locker bleiben, Ada‹, sage ich, aber es kommt nicht an. ›Wenn du no oimol doi Schuhe bei mir im Flur ausziahsch und bloß so hinknallsch, noh schmeiße i sie dir auf d Schdraße. Und di hinderhr. Hasch mi verschdande? Räum doi Schuhe fälligsch so weg, damid nedd jedr darübr schdolberd.‹«