HimbeerToni. Joachim Seidel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joachim Seidel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847612759
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      »Fünfundzwanzig Jahre Remo Smash! Das sollte eigentlich reichen. Was steht sonst an?«, will Herr Blümchen wissen.

      »Na ja, heute erst Zigeunerpunk mit ’nem komplett durchgeknallten Stelzenläufer im Rahmenprogramm, der jetzt über mir wohnt, ist genau unsere Kragenweite, anschließend Poetry-Slam und Remo-Smash-Alarm auf ’em Kiez und morgen um vier Uhr Forget the Night – Fugazi live in der Fabrik.«

      »Fugazi live? Alter. Ich muss Sonntag wieder um halb drei raus.«

      »Alter. Die spielen nachmittags um vier.«

      »Wie? Punkrock am helllichten Nachmittag? Und was machen die nachts?« Herr Blümchen gähnt genüsslich.

      »Abends haben die was Besseres vor, als sich vor einer Horde ungelenk rumhopsender, grimassierender Altpunks zum Affen zu machen.«

      »Ich mach alles mit. Hauptsache, ich muss nicht singen«, grummelt Herr Blümchen.

      Gemächlich trotten wir in Richtung Ausgang Kirchenallee. Mein Gemächt schmerzt jetzt auch beim Gehen, und ich befürchte, dass es sich bei diesem Handicap um einen potenziellen Neueinsteiger in meine Problem-Charts handeln könnte. Währenddessen zieht Herr Blümchen sein kaputtes Bein weiter nach.

      »Von der Leiter gefallen, nix Schlimmes«, sagt er und humpelt weiter.

      »Na gut. Singen musst du bei mir nicht, backen und tanzen auch nicht!«

      Seit der siebten Klasse wusste Herr Blümchen, dass er als Erwachsener die elterliche Backstube übernehmen würde und dass er zwar gerne Schlagzeug spielt, aber weder gerne singt noch tanzt. Einmal hatte Herr Blümchen in den Achtzigern öffentlich eine Art Veitstanz zu Love Like Blood von Killing Joke aufgeführt. Dabei hoppelte er wie ein gleichgewichtsgestörter Marabu auf Brautschau über die Tanzfläche im Stairway. Und in den späten Siebzigern habe ich ihn sogar mit eigenen Augen Pogo tanzen sehen und fasziniert gelauscht, wie er Fast Cars von den Buzzcocks mit seinem tiefen Bass stimmlich untermalte. Aber das ist lange her. Herr Blümchen ist musikalisch wie ein Stein, und er hat nie sonderlich darunter gelitten. Und weil er schon 1978 mein bester Freund war und seinerzeit der Punkrock regierte, hatte ich ihn damals als Erstes gefragt, ob er nicht Sänger bei unserer ersten Band Deflöration werden wollte, nachdem Papa Punk in den Sack gehauen hatte und ein paar Monate vor uns nach Berlin abgehauen war. Dann haben Kurtchen, Holgi, Herr Blümchen und ich zusammen Toilet Love aufgenommen – wir nannten uns Remo Smash, und auch Papa Punk war kurzzeitig wieder mit an Bord.

      Wir treten aus dem Bahnhofsgebäude ins Freie. Wie immer, wenn ich ihn am Hauptbahnhof abhole, weist mich Herr Blümchen beim ersten Ansichtigwerden großflächig im Gesicht Tätowierter und anderweitig vom Leben oder von Menschenhand Gezeichneter darauf hin, wie froh er doch ist, nicht mehr in der großen Stadt, sondern in der tiefsten Provinz zu wohnen.

      »Bäähh«, tönt es aus ihm heraus, und dabei wabbeln seine fleischigen Wangen zum Zeichen seiner Intoleranz wie die hängenden Sabberlefzen einer Riesendogge.

      Schweigend gehen wir zur Bushaltestelle.

      »Ich hol uns was Trinkbares!«, sage ich.

      »Gib mal dein Jahrhundertwerk her!«

      Ich sehe Herrn Blümchen zweifelnd an. Er nickt mir zu. Ich krame einen Stapel ausgedruckter Romanseiten aus meinem Rucksack und reiche ihm ein Blatt.

      »Lies erst mal das hier.«

      »Willste mich verarschen?«

      Herr Blümchen grapscht sich den ganzen Stoß, macht es sich mit einer Pobacke und ausgestrecktem Fuß auf seinem Rollkoffer bequem und beginnt mit der Lektüre. Ich gehe zum nächsten Imbiss. Vor dem Reingehen drehe ich mich um. Tatsächlich: Mein bester Freund sitzt da und liest meinen Text. Und guckt dabei kein bisschen angewidert. Ich lasse ihn lesen, bleibe dann mit den erworbenen Bierdosen hinter Herrn Blümchen stehen und sage nichts. Plötzlich beginnt der Fahrkartenautomat zu sprechen. Herr Blümchen schreckt auf.

      »Wegen einer Demonstration in der Innenstadt verzögern sich die Abfahrtszeiten der Metrobuslinien 4, 5 und 6 sowie der Schnellbusse im gesamten Innenstadtbereich. Wir bitten um Ihr Verständnis.«

      Also latschen Herr Blümchen und ich die Kirchenallee zurück. Vorbei an Imbisshallen mit weißen Plastikmöbeln davor und den wenig einladenden City-Hotels; vorbei am Deutschen Schauspielhaus in Richtung Lange Reihe.

      »Wie findstes?«, frage ich.

      »Berlin-Moabit, Remo Smash, Knete und das ›Glühwürmchen‹, der Übungsraum hinter den Klos im Ballhaus Tiergarten und die Kack-Achtziger, alles gut getroffen, Alter«, sagt Herr Blümchen und guckt gnädig. Er ist durstig, will aber seine Dose noch nicht aufreißen. Auf der anderen Straßenseite erblickt er »Max & Consorten« und stopft seine Bierbüchse in den Rollkoffer.

      »Der Laden ist auch Kack-Achtziger«, maule ich, ahne aber, dass er jetzt da rein will. Ich kann diese Destillen mit abgehangenem Flower-Power-Ambiente, in denen die Zeit stehen geblieben ist, nicht mehr verknusen. Dass ich noch immer gegen Altfreaks aus den Siebzigern allergisch bin, macht mich nachdenklich. Als Teenager hatte ich ihre langen, hennarot gefärbten Matten, die hängenden Schultern und den schlurfenden Gang anfangs glühend bewundert, auch dass diese Menschen dauernd kifften und Dinge sagten, wie »Hey, Män, das is’ aba echt groovy, Alda«, konnte mich eine Zeit lang nicht abschrecken.

      »Ich hab Brand wie ’ne Bergziege«, drängelt Herr Blümchen. Also gehen wir rüber ins »Max« am Spadenteich. Was für eine Wuselbartkneipe. Herr Blümchen humpelt in den Vorraum, seinen rollenden Koffer im Schlepptau, dessen Räder jetzt zu quietschen anfangen.

      »Bergziege ist auch Kackachtziger.« Ich hasse die ganze verdammte Dekade wie die Pest, fast so schlimm wie 1975, aber das war ja bloß ein Jahr. Die Achtziger dagegen waren und werden immer das verlorene Jahrzehnt bleiben – mein verlorenes Jahrzehnt.

      »Das Beste war Repo Man«, befindet Herr Blümchen, der es auch im Kino gerne etwas härter mag. Der dunkle Schankraum riecht trotz Rauchverbot nach alten Kippen, abgestandenem Bier und totgeschlagener Zeit.

      Bis auf die gut aussehende Bedienung hinterm Tresen ist kein Mensch zu sehen. Wir setzen uns an einen Tisch am Fenster. Herr Blümchen ordert zwei Halbe.

      »Ich weiß bis heute nicht, wie wir den ganzen Achtziger-Schwubelkram ertragen konnten: ›Kristallnaaach‹, ›Wir wollen Sonne statt Reagan‹, Friedensbewegung, Georg Danzer, Baldur Springmann und wie die ganzen Bots und Baps so hießen«, sagt Herr Blümchen und seufzt.

      Ich rufe »Aufstehn«, erhebe mich und gehe zum Klo. In der Mitte der Kneipe bleibe ich stehen und singe zu Herrn Blümchen rüber: »Was wolle wir dringe siebe Dage lang, was wolle wir dringe?«

      Und Herr Blümchen kräht zurück: »Weiches Wasser bricht den Stein!«

      Am Urinal stehend frage ich mich, ob es je ein dreißigjähriges Remo-Smash-Treffen geben wird, wenn ich demnächst ein Kind kriege. Mich überkommt heftiger Durst.

      »Euer Bier kommt gleich«, schallt es von der Theke. Die Frau ist viel jünger als wir, so um die zwanzig plus. Gnade der späten Geburt. Die trüben Achtziger müssen an ihr folgenlos vorübergegangen sein. Herr Blümchen wirft einen begehrlichen Blick auf sie oder die beiden Blonden auf ihrem Tablett.

      »Warum hast du eigentlich so ’n Schiss, dass du bei mir singen musst?«, frage ich Herrn Blümchen, als ich mich wieder setze.

      »Ich hatte die Tage genug Gesang. Aber lass man, ist mir peinlich.«

      »Los, Blümchen, mir kannstes doch sagen.«

      »Schieb noch mal ’n paar Seiten zu lesen rüber«, mault er stattdessen. Ich hole einen weiteren Stoß vollgetippter Blätter aus dem Rucksack und lege sie vor mich auf den Tisch. Herr Blümchen schnappt die paar Seiten, beginnt zu lesen, und ich denke an all die unbeschwerten Tage damals mit meinem besten Freund und wie sich die Zeiten geändert haben. Ich stürze mein Bier runter.

      Herr Blümchen streckt mir die Hand entgegen.

      »Gib