Nach Gertruds Bemerkung über den gewünschten Hausbau hatte Viktor schweigend zu essen begonnen. Anschließend stand er auf und ging ohne ein Wort hinaus. Wahrscheinlich war, wie so oft, die Weinschänke sei Ziel. Gertrud starrte ihm mit finsterem Gesicht hinterher. Als auch noch die Haustür geräuschvoll ins Schloss fiel, war ihre Laune vollends verdorben. Die Kinder folgten ihrem Instinkt und verschwanden lautlos wie Mäuschen in ihren Löchern. Wütend räumte Gertrud den Tisch ab und schimpfte dabei vor sich hin.
„Sie war freundlich und beliebt, pah!“ Viktor hatte Gertruds wunden Punkt getroffen. „ Außerdem hübsch und klug und von angenehmen Wesen – ich weiß, ich weiß!“ Aufgebracht stocherte Gertrud mit dem Haken im Feuerloch. „Das könnte der so passen, hier einfach wieder aufzutauchen und alle um den Finger zu wickeln! Jetzt bin ich hier die Hausherrin, und zwar alleine!“ Triumphierend richtete sie sich auf und schüttelte den Schürhaken gegen einen unsichtbaren Gegner. Dann lachte sie schrill. „Wenn ich die Alte losgeworden bin, schaffe ich das bei dir auch, mein Täubchen - wart’s nur ab! Und wenn ich wieder mal nachhelfen muss, dann tue ich das eben!“
Gertrud beendete ihr Selbstgespräch, band die Schürze ab und verließ ebenfalls das Haus. In einer Ecke des Flures löste sich ein Schatten aus dem Dunkel. Betroffen schaute Ludwig seiner Mutter nach.
Gertrud eilte zielstrebig die Straße hinunter. Den Nachbarinnen, denen sie begegnete, schenkte sie nur ein kurzes Nicken. Den alten Männern, die auf den Straßenbänken unter den Bäumen im Schatten saßen, gönnte sie einen knappen Gruß. Ihre geheuchelte Unterwürfigkeit gegenüber Höhergestellten und die rechthaberische Art, die sie Gleichgestellten gegenüber hatte, machte Gertrud im Dorf sehr unbeliebt. Die meisten Leute mieden sie. Da die Haischs auch keine weitläufige Verwandtschaft hatten wie die meisten Familien, blieben sie bei vielem außen vor. Zu Hochzeiten wurden sie nicht eingeladen, als Taufpaten wollte sie keiner haben, Frauennachmittage im Pfarramt fanden ohne Gertrud statt. Die Kinder vermieden es, Freunde mit nach Hause zu bringen, deshalb blieben auch sie unter den Schulkindern Einzelgänger. Einzig Viktor pflegte in der Weinschänke Kontakt zu den Nachbarn. So wie heute. Die Bauern bedachten ihn mit gutmütigem Spott. Viktor spürte jedoch, dass die Männer im Grunde Mitleid mit ihm hatten und so ertrug er auch ihre Verachtung. Heute saß er mit dem alten Anton Schütze in der Gaststube. Als einzige Gäste hockten sie am hintersten Tisch und tranken schweigend ihren Wein aus den groben Glasbechern.
Viktor brütete über seinem Problem. Dieses Weib! Konnte sie nicht so sein wie die meisten anderen Frauen? Was hatte er nur damals an ihr gefunden? War sie jemals jung und hübsch und liebenswert gewesen? Viktor schüttelte resigniert den Kopf über sein Unglück.
„Hast wohl Probleme daheim?“, fragte der Alte.
Viktors trunkener Kopf ging vom Kopfschütteln in ein Nicken über.
„Musst halt mal mit der Faust auf’n Tisch haun!“, schlug Anton vor. Feixend fügte er hinzu: „Aber sieh zu, dass du vorher das gute Tischtuch runternimmst, sonst kriegst Ärger!“ Er lachte schallend und schlug Viktor mit seiner derben Pranke auf den Rücken.
„Ach, es ist viel schlimmer!“, seufzte Viktor. „Mein Bruder, der Jacob, ist in der Fremde gestorben.“ Anton wurde ernst. „Meine Schwägerin will nun wieder heimkommen, aber die Gertrud will sie ums Verrecken nicht dahaben. Was soll ich jetzt nur machen?“
Anton verarbeitete die Neuigkeiten nur langsam. Auch er hatte schon einiges getrunken.
„Jacob? Ach, der Jacob! Ein guter Bursche, schad ist’s um ihn. Er war doch noch jung. Woran ist er denn gestorben?“
Viktor überlegte, aber er hatte es vergessen. Stand das überhaupt in dem Brief? Er hätte ihn mitbringen sollen.
Inzwischen war es Abend geworden und es trafen immer mehr Männer in der Weinschänke ein. Müde und zufrieden nach einem guten Erntetag, an dem sie Mais und Melonen von den Feldern gefahren hatten, kamen sie einzeln und in Grüppchen, zwirbelten die Schnauzbärte und freuten sich auf den wohlverdienten Feierabend mit einem ordentlichen Glas Wein und einem Schwätzchen unter Nachbarn. Einige kamen direkt vom Feld und hatten draußen ihr Fuhrwerk vor der Tür stehen, Jacken und Hosen aus grobem Tuch waren staubig. Andere hatten vorher zu Abend gegessen und erschienen gewaschen und umgezogen, sozusagen mit dem Segen ihrer Ehefrauen.
Anton Schütze erzählte jedem Neuankömmling sogleich von Jacobs Schicksal. Die Leute liebten Neuigkeiten, deshalb gruppierten sich alle um Viktors Tisch, begierig auf Einzelheiten. Viktor tat die Aufmerksamkeit wohl und er erzählte bereitwillig mehrmals von dem Brief, den Wilhelmine geschrieben hatte, von Gertruds Sturheit und was er jetzt unternehmen wollte - wenn er dürfte. Weil aber alle genau wissen wollten, was in dem Schreiben stand und er es partout nicht mehr zusammenbekam, machten sich ein paar Stunden später mehrere schwankende Männer auf den Weg zu Viktors Haus, um den Brief zu holen. Als der unordentliche Haufen schwatzend durch die Tür drängte, empfing sie eine aufgebrachte Gertrud. Ihre schrille Stimme ließ alle erstarren.
„Was soll der Lärm, dass alle Kinder aufwachen und die Nachbarn aus den Fenstern glotzen? Habt ihr vor, hier weiter zu saufen? Oder wollt ihr erst Viktors Arbeit tun, die er über der Flasche vergessen hat? Dann geht gleich raus, Ställe ausmisten und Wasser tragen!“
Stocksteif standen die Männer, dann schlich sich einer nach dem anderen unter Gertruds Gekeife aus der Tür. Junge, Junge, was für ein Drachen! Der Haisch war wirklich zu bedauern. Viktor, unbeeindruckt, weil abgehärtet, hatte derweil vergeblich auf dem Tisch und dem Ofensims nach dem Brief geschaut. Hatte ihn Gertrud vielleicht weggeworfen? Zuzutrauen wäre es ihr ja. Wie sollte man dann die Adresse herausfinden, unter der Wilhelmine jetzt lebte? Was sollte er den Nachbarn sagen?
„Wo hast du den Brief hingetan?“, fragte Viktor in eine Atempause Gertruds hinein.
Verdutzt hielt sie inne. Aber nicht lange.
„Den Brief?“, schrillte ihre Stimme. „Wo ich den Brief hingetan habe? Das wollte ich dich gerade fragen, mein Lieber. Den ganzen Abend habe ich ihn gesucht! Der Primar will ihn sehen, damit er Schritte unternehmen kann!“ Gertrud machte eine bedeutungsvolle Pause, damit sie Viktors verblüfften Gesichtsausdruck genießen konnte.
„Du - du warst beim Primar? Was denn für ... Schritte?“, fragte Viktor lahm. „Ich denke, du willst nicht, dass sie heimkommt?“
Gertrud lachte meckernd. „Das wird sie auch nicht. Ich habe heute auf dem Gemeindeamt in den Büchern nachschlagen lassen. Die Erbverhältnisse sind klar - Jacob ist ausbezahlt. Seinen Kindern steht in diesem Hause kein Wohnrecht zu, Vormund hin oder her. Gott sei Dank haben wir damals alles schriftlich gemacht und Jacob unterschreiben lassen.“
Viktor setzte sich langsam. Er war plötzlich wieder nüchtern.
„Und wo sollen sie dann hin?“, fragte er. Was hatte Gertrud nur wieder ausgeheckt? Seine Frau stützte sich auf den Tisch und beugte sich zu ihm vor.
„Hab nur keine Angst um deine Familie!“, sagte sie spöttisch. „Es geht ihnen dort besser als du denkst, glaube mir. Wilhelmine war halt schon immer ein bisschen wehleidig veranlagt. Wahrscheinlich hat sie längst wieder einen neuen Mann gefunden und bereut es schon, dass sie um Hilfe geschrieben hat. Niemand wird sich bereitfinden, sie heimzuholen. Das dauert ja Wochen! Wer soll so lange seine Wirtschaft im Stich lassen? Siehst du – das geht gar nicht.“ Als wäre Viktor ein törichtes Kind, so redete sie ihm zu. Doch jetzt wurde ihre Stimme schärfer. „Und wenn sie trotzdem irgendwann hier auftauchen sollte, habe ich vorgesorgt!“ Selbstgefällig verschränkte Gertrud die Arme vor der mageren Brust.
„Wie denn?“, fragte Viktor und wollte es doch eigentlich gar nicht wissen.
Gertrud lächelte liebenswürdig. „Nun, für Wilhelmine wird ein Mann gefunden, und ihre Kinder wachsen da auf, wo schon ihre Mutter großgeworden ist.“
„Was, im Waisenhaus?“,