„Was hast du da?“, wollte sie wissen. Ludwig gab den Brief wortlos heraus. Nach einem kurzen Blick auf die Adresse riss sie sogleich den Umschlag auf. Ludwig wusste, dass ‚Viktor Haisch‘ auf dem Kuvert stand, hütete aber seine Zunge. Ohnehin war er froh, dass der Brief die Mutter von ihm ablenkte. Bestimmt hätte sie wieder wegen irgendetwas mit ihm geschimpft. Als er sich an den Tisch setzte, betraten sein Vater und die beiden jüngeren Geschwister den Raum. Ilse war neun, Arthur sieben Jahre alt. Hanna war jetzt zwanzig und seit zwei Jahren verheiratet. Sie wohnte weit weg in Lichtental, fast dreißig Kilometer von zu Hause entfernt, und darum beneidete sie Ludwig von Herzen.
Ilse huschte in die Küche, um nach dem Abendessen zu sehen. Sie war ein kräftiges Mädchen und der Mutter sehr gehorsam. Ihren jüngeren Bruder kommandierte sie gern herum, so wie sie es bei den Eltern sah. Selbst bei Ludwig, der fast fünf Jahre älter war als sie, versuchte sie es bisweilen. Arthur hielt sich gern an den Vater. Obgleich er äußerlich nach der Mutter kam, hatte er die Mentalität seines Vaters geerbt. Gemeinsam werkelten sie im Hof, besorgten Stall und Feld. Als alle um den Tisch saßen, warf Gertrud den Brief auf den Tisch.
„Hier ist etwas gekommen, Viktor, das schlägt dem Fass den Boden aus! Ich kann es kaum glauben, wie viel Frechheit in diesem Weibsbild steckt. Trägt den halben Hausrat fort, nimmt in der schlimmsten Hungerzeit alle Vorräte mit und lässt uns mit der ganzen Arbeit und zwei alten Leuten hier sitzen! Und jetzt denkt sie, dass sie sich mit ihren Bälgern hier einnisten kann, nur weil ihr der Mann gestorben ist ...“
Viktor, der bis dahin verständnislos zugehört hatte, fuhr auf.
„Jacob?!“, rief er und ergriff das Papier. Seine Augen überflogen die Zeilen. „Ein Unfall!“, murmelte er tonlos und ließ das Blatt sinken. Die Kinder saßen gespannt um den Tisch und sahen den Vater an. In der Mitte stand unbeachtet die Schüssel mit den dampfenden Maiskolben. Auf dem Herd wartete noch ein Topf mit Hühnersuppe. Selbst Gertrud spürte, dass sie jetzt schweigen sollte. Sie teilte die Schüsseln aus, während Viktor den Brief mit zitternder Hand ergriff und noch einmal halblaut vorlas:
„Lieber Schwager!
Nun muss ich dir Nachricht geben vom Tode Jacobs. Er starb durch einen Unfall
bei der Arbeit. Er wurde mit Gottes Segen in geweihter Erde bestattet. Wir sind
nun sehr traurig und einsam. Leider bin ich mittellos. Ich möchte dich bitten,
uns wieder aufzunehmen. Wir wissen doch nicht, wo wir sonst hinsollen und
wir sind doch eine Familie. Da ist noch eine große Bitte, die ich an dich habe.
Lieber Viktor, du musst uns helfen, nach Hause zu kommen, denn ich weiß nicht
wie ich das anstellen soll. Wir haben weder Pferd noch Wagen. Ach Viktor, ich
bin sehr verzweifelt und hoffe auf deine Hilfe. Meine Kinder und ich können
dir bestimmt sehr nützlich sein in der Wirtschaft. Jacob ist schon zwölf Jahre alt
und sehr kräftig. Er arbeitet gut und ausdauernd. Emilie ist zehn und Paula
sechs Jahre. Sie sind fleißige Mädchen, können beide spinnen und stricken.
Emilie kann auch kochen und backen. Die Zwillinge heißen Eduard und Selma.
Sie sind jetzt zwei Jahre alt und machen überhaupt keineUmstände, auch essen
sie sehr wenig. Ich bete jeden Tag, dass ich Antwort aus der Heimat erhalte.
Lieber Schwager, Gottes Dank sei dir beschieden, wenn du deiner Familie in
dieser Not beistehst.
In Liebe und Dankbarkeit
Deine Wilhelmine
Als Viktor geendet hatte, herrschte betroffene Stille am Tische. Wie auf ein geheimes Zeichen schauten alle Kinder auf die Mutter.
Viktor sagte gequält: „Wir müssen ihr doch helfen!“
Gertrud nahm sich mit spitzen Fingern einen Maiskolben aus der Schüssel. Ihrem verkniffenen Gesicht war unschwer die Verachtung abzulesen.
„Möchte wohl noch abgeholt werden, die Dame, wie? Mit zwei Rossen vor einer goldenen Kutsche, was? Wo sind denn Pferd und Wagen, die sie von hier mitgenommen haben? Trägt den halben Hausrat fort ...“
„Aber Gertrud!“, rief Viktor. „Das war sein Erbteil!“
„Na und?“, entgegnete sie spitz. „Haben alles verjubelt und kommen jetzt angekrochen, um sich auf unserer Hände Arbeit auszuruhen!“
Viktor beugte sich vor. „Gertrud, mein Bruder ist tot! Das macht mich zum Vormund seiner Kinder, begreifst du das nicht? Ich kann sie doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen!“
„Ich will sie aber nicht hierhaben!“, fauchte Gertrud böse.
„Warum bist du nur so hartherzig, Frau?“ Viktor schüttelte fassungslos den Kopf. „Sie hat hier gelebt, ihr habt euch gegenseitig bei den Geburten beigestanden. Sie war doch immer freundlich und bei allen beliebt – nur bei dir nicht! Seit Jacob und Wilhelmine weggezogen sind, durfte in deiner Gegenwart nicht einmal mehr über sie gesprochen werden. Die Kinder wissen gar nicht, dass sie einen Onkel hatten.“ Viktor wandte sich an Ludwig, der wie seine Geschwister den Vater verblüfft anstarrte. Solche Töne von ihm waren neu. „Kennst du noch deinen Onkel Jacob?“, fragte Viktor seinen Sohn.
Ludwig schielte unsicher zur Mutter und hob die Schultern. „Hanna hat mir mal von Verwandten erzählt, die weggezogen sind, als ich noch klein war. Erinnern kann ich mich nicht.“
„Du warst drei!“, nickte Viktor nachdenklich. Er war sichtlich erschüttert über den Tod des Bruders. Gertrud merkte, dass sie diesmal mit dem üblichen Befehlston bei Viktor nichts ausrichten konnte und verlegte sich auf überzeugende Worte.
„Du musst doch einsehen, Mann, dass kein Platz im Hause ist. Es war damals schon sehr eng, als Hanna und deine Eltern noch hier lebten. Sechs Personen mehr! Herrjeh, wo sollen die denn hin in dem kleinen Haus?“ Giftig fügte sie hinzu: „Die meisten bauen ja schon ein Großes, nur du kannst dich nicht aufraffen!“
Tatsächlich war es so, dass die Häuser in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die sogenannten ‚Kronshäuschen‘, sehr einfach gebaut waren. Anfangs hatten sie die Lehmhütten der Gründungskolonisten abgelöst und galten als modern, weil sie aus Stein erbaut waren. Sie bestanden aus zwei Zimmern, der Küche und dem Hausflur. Außer dem Pastorat, das schon damals mit Dachpfannen gedeckt war, bestand die Dachdeckung aller übrigen Häuser aus Rohr. In den Jahren um und nach der Jahrhundertwende setzte allmählich eine Veränderung der Hofanlagen ein. Man wollte es komfortabler haben. Die Männer schlugen Steine aus den Steinbrüchen am südlichen Höhenzug des Kogälniktales, welche gute Muschelkalksteine bargen, und bauten damit geräumige Häuser, breitere Stallungen, Mauern und Brunnen. Alles wurde hübsch weiß getüncht und war der Stolz eines jeden Hausherren. Im Winter, wenn die Feldarbeit ruhte, gingen die Männer in die Steinbrüche. Hatte die Gemeinde dorfeigene Steinbrüche, so wie es zum Beispiel in Teplitz und Alt- Elft der Fall war, hatte jeder Familienvater das Recht, so viele Steine zu brechen, wie er zum Eigenbedarf brauchte. Freilich gab es auch Unglücksfälle, bei denen es manchmal sogar Todesopfer zu beklagen galt. Vor vier Jahren hatte sich Viktor einen bösen Beinbruch zugezogen, als herabstürzende Steine ihn begruben. Er konnte froh sein, dass er mit dem Leben davongekommen war. Das Bein heilte, aber es schmerzte bei Wetterwechseln und schwoll an, wenn es zu sehr belastet wurde. Viktor humpelte leicht und mied fürderhin den Steinbruch. Das nahm ihm Gertrud übel, denn natürlich wollte auch sie ein großes Haus haben. Jetzt musste sie erleben, dass ein Nachbar nach dem anderen mit dem Bau begann, nur Viktor tat nichts dergleichen. Sein Ehrgeiz war dem jahrzehntelangen ehelichen Terror zum Opfer