Angela Rommeiß
Emilie
Das Mädchen aus Bessarabien
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Inhaltsverzeichnis
VORWORT
Kennen Sie Ihre Urgroßmutter?
Wie war ihr Name und wie viele Kinder hat sie geboren?
Welchen Beruf hatte Ihr Urgroßvater?
Diese Sätze las ich in einem Familienalbum, welches mir meine Schwester zur Hauseinweihungsparty schenkte. Man sollte seinen Stammbaum eintragen. Nach einigen Monaten, als der Umzugstrubel vorbei war, machte ich mich etwas halbherzig ans Werk, dieses Album auszufüllen. Nun, es war Winter, im Garten gab es nichts zu tun, da konnte ich ja mal meine Eltern und Schwiegereltern nach ihren Ahnen befragen. Was dabei herauskam, war erstaunlich:
Ich hatte mütterlicherseits eine italienische Urgroßmutter und den Vornamen meiner Tochter Marie gab es in jeder Linie mindestens einmal. Drei Großväter hießen Friedrich. Wir hatten Verwandtschaft in Brasilien und in Amerika! Mein Opa, von dem ich nur wusste, dass er Bergmann und später Neulehrer gewesen war, hatte eigentlich den Beruf des Damenschneiders erlernt.
Immer neue Dinge, interessante, spannende und lustige, kamen bei den Erzählungen der älteren Familienmitglieder bei Kaffe und Kuchen ans Tageslicht.
Aber am meisten faszinierte mich die Geschichte meiner Oma Emilie, der Mutter meines Vaters. Ich kannte sie kaum. In meiner Erinnerung war sie eine knuddelige, rotwangige Omi, die uns nur selten besuchte, denn sie lebte im Westen, wir im Osten. War sie es nicht gewesen, die mir die rote Puppenwagendecke gehäkelt hatte? Vor Jahren schon war sie gestorben.
Mein Vater kam, als seine Erinnerungen einmal geweckt waren, ins Erzählen und zog mich in seinen Bann. Plötzlich entstand vor meinem inneren Auge ein farbenfrohes Bild:
Eine Kindheit vor langer Zeit in einem fernen Land, angefüllt mit sonnigen, unbeschwerten Tagen voller Lachen, aber auch bitteren Erfahrungen und harter Arbeit. Das Leben damals war außerordentlich entbehrungsreich, doch die Menschen waren stark. Sie gaben ihre Sehnsüchte und Hoffnungen niemals auf und waren hart im Nehmen.
Wie war meine Großmutter als Kind? Wie sah sie aus, was hat sie erlebt und wovon hat sie geträumt? Das wollte ich gerne wissen. Ich begab mich auf eine Reise und tauchte in die Vergangenheit ein. Dort besuchte ich meine Vorfahren und nahm an ihrem Alltag teil. Es sind nicht immer die großen Ereignisse, die den Lauf der Geschichte bestimmen. Der ganz alltägliche Tagesablauf, die normalen Geschehnisse im jahreszeitlichen Rhythmus bestimmten das Leben der Menschen, genauso wie es heute bei uns ist. Es hat diese Menschen wirklich gegeben, sie haben gefühlt und geträumt wie du und ich.
Jetzt sind sie tot. Wenn sie aber den täglichen Kampf ums Überleben damals nicht gewonnen hätten, dann wären meine Eltern und Geschwister, Onkel, Tanten, meine Kinder und ich selbst - nicht da. Deshalb verdienen sie es, in unserer Erinnerung lebendig zu bleiben.
Man kann sich an einen Menschen erinnern, wenn man an einem moosbewachsenen Grabstein steht. Lebendig wird er, wenn man ihn sich als Kind vorstellt. In Anlehnung an die Biographie meiner Großmutter habe ich diese Geschichte aufgeschrieben, die den Lebensweg eines Mädchens in einer für uns unbekannten Gegend erzählt. Dieses Land war für tausende Deutsche fast einhundertdreißig Jahre lang die Heimat.
ZUR GESCHICHTE
Im Jahre 1812 erwarb der russische Kaiser Alexander der Erste das Land Bessarabien. Dieser Landstrich erstreckt sich über das heutige Moldawien und einen Teil der Ukraine, begrenzt von Rumänien und dem Schwarzen Meer. Während Nordbessarabien eine dicht von Eichen- und Buchen bewaldete Hochebene ist, von tiefen Schluchten eines Karpatenausläufers durchzogen, geht das Land in Richtung Süden rasch in ein dünnbesiedeltes, karges Steppenland über, wo in einer baumlosen Landschaft mannshohes Gras auf fruchtbarer schwarzer Erde wächst. Schon zu Beginn der Menschheitsgeschichte war diese Steppe ein Durchzugsgebiet der Urvölker. Von den asiatischen Steppen zogen nomadisierende Volksstämme an den Karpaten entlang nach Europa. Griechen, Daker, Goten, Hunnen und Römer wanderten hier entlang. Von den letzteren stammen die Moldauer ab, welche die Hauptbevölkerung darstellen. Vor der Einwanderung von Siedlern wurde das Land von einem Hirten- und Wandervolk genutzt, den nogaischen Tataren, einem Turkvolk. Viele Ortsnamen erinnerten später noch an dieses Nomadenvolk, das sich später zum größten Teil in die Türkei zurückzog.
Der russische Kaiser wollte das Gebiet wirtschaftlich nutzen und verschenkte riesige Landflächen an seine Heerführer, die sich im Napoleonfeldzug verdient gemacht hatten. Doch für die Landwirtschaft braucht man Bauern, deshalb warb der Kaiser Siedler. Er fand sie im zersplitterten Deutschland. Durch die fortwährenden napoleonischen Kriege war die Bevölkerung hier verarmt und verbittert. Wie göttliche Verheißung erschienen deshalb den Menschen die Versprechungen des russischen Kaisers, dem sie wegen seiner Gottgläubigkeit großes Vertrauen schenkten. Die russische Regierung gewährte den deutschen Einwanderern verschiedene Privilegien: So war das zu besiedelnde Land zehn Jahre lang von Abgaben und Grundsteuern befreit, arme Familien wurden mit einer Zahlung von zweihundertsiebzig Rubeln unterstützt. Nach der Ansiedlung würde jede Seele pro Tag fünf Kopeken Nahrungsgeld bis zur ersten Getreideernte erhalten. Die Einwanderer und ihre Nachkommen sollten für ewige Zeiten vom Militärdienst befreit sein, auch wurde ihnen das Recht auf freie Ausübung ihrer Religion zugesagt. Erst nach zehn Jahren mussten die Unterstützungsgelder nach und nach zurückgezahlt werden.
Das klang gut in den Ohren der ausgehungerten, geknechteten Bevölkerung, und so fanden sich viele, die dem Werben des Kaisers Folge leisteten. Im Frühjahr 1814 traten die ersten Siedler die Reise ins ferne Bessarabien, ins Land der Hoffnung, an. Pferde- und Handwagen, Ziegen- Ochsen- und sogar Schubkarren, mit Hausrat und kleinen Kindern beladen – so begaben sich die Menschen auf die mühselige Wanderung. Was für eine Reise! Nach Monaten voller Strapazen, nach Überwindung