Emilie ging nach Hause.
Das Blechtöpfchen, in dem das Mittagessen gewesen war, klapperte müde an ihrer rechten Hand, in der linken hing das buntgeblümte Kopftuch. Die nackten Füße wirbelten kleine Staubwölkchen auf dem trockenen Feldweg hoch. Das dürre Gras, die Stoppelfelder, die kleinen weißgetünchten Häuschen bekamen von der untergehenden Sonne einen orangeroten Schimmer. Schön sah das aus! Der mächtige Fluss, dem sie entgegenging, glänzte wie flüssiges Silber. Emilie träumte und schlurfte langsam heimwärts. Obwohl sie staubig war und es überall von der Spreu juckte, hatte sie es nicht eilig. Zu Hause gab es immer genug zu helfen für die älteste Tochter – und heute waren die Hände besonders zerschunden. Die Mutter würde etwas Fett drauf streichen müssen. Ob es heute grüne Riebela gab? Diese Kohlsuppe mit Mehlklößchen aß Emilie gern. Natürlich ging nichts über ein Stück Fleisch auf dem Teller, oder süße Nudeln...! Emilies Magen knurrte. Meistens machte die Mutter Brei oder Suppe. Wegen der kleinsten Geschwister und seit der Vater so schlechte Zähne hatte.
Emilie stellte das Töpfchen auf der Treppe neben der Haustür ab und ging zum Brunnen. Als das Schöpfrad quietschte, sprang die Haustür auf. Jacob kam heraus, an jeder Hand einen Zwilling. Die sechsjährige Paula drängelte hinterdrein.
„Wo bleibst du nur?“, rief der Bruder. „Nimm mir mal die Blagen ab, ich muss zur Schmiede. Der Vater hatte einen Unfall, Mutter haben sie vor ner Viertelstunde geholt!“
Emilie stand wie erstarrt. „Was – wie ...?“, stammelte sie, doch Jacob war schon davongerannt. Man sah nur noch seinen braunen Schopf über einer Staubwolke, aus der die nackten Sohlen blitzten, dann war er fort.
Das war doch wieder typisch, als ob sie den dort gebrauchen konnten! Seufzend nahm Emilie die Zwillinge bei den Händchen. Selma und Eduard waren erst zwei Jahre alt und sehr zarte Kinder. Emilie wusste noch, wie schwer die Geburt gewesen war. Die Zwillinge schienen unbedingt gleichzeitig auf die Welt kommen zu wollen. Dann sah es für ein paar Tage so aus, als wollten sie die Welt gleich wieder gemeinsam verlassen. Auch um das Leben der Mutter mussten sie bangen. Nun bangte Emilie um den Vater. Nicht, dass sie ihn besonders liebte. Der Vater war meistens mürrisch und abends müde. Mit seinen Kindern wusste er nichts anzufangen, solange sie klein oder Mädchen waren. Bisweilen verteilte er Schläge, wenn es ihm nötig erschien, damit war seine erzieherische Tätigkeit erschöpft. Von der Mutter bekamen sie höchstens mal einen Klaps.
Das Mädchen öffnete ein Fenster, weil es im Raum stickig war. Ein kühler Abendhauch tat gut nach dem heißen Tag. Was mochte nur passiert sein? Emilie war unruhig. Sie nahm einen Lappen aus der Schüssel und wischte über den groben Holztisch. Ach, wahrscheinlich war es nicht so schlimm. Der Vater würde die nächsten Wochen mit einem gebrochenen Bein im Bett liegen und alle herumkommandieren. Emilie hob die kleine Selma auf ihr Stühlchen und schaute nach dem Herd. Paula und Eduard balgten sich auf dem Fußboden herum.
Das Feuer war ausgegangen, aber die Suppe war noch warm. Emilie hob den Deckel und schnupperte in den Topf. Sie zog die Nase kraus. Kein einziges Fettauge schwamm auf der dünnen Brühe! Die Mutter hatte sicherlich nichts dagegen, wenn sie einen Kanten Brot dazu aßen.
„Sei ein großes Mädchen und setz Edi auf den Stuhl!“, rief Emilie der Schwester zu.
„Ja, ja!“, antwortete Paula und kitzelte Eduard am Bauch. Der kreischte und rannte mit dem Kopf gegen den Schrank. Emilie musste pusten, damit es nicht mehr wehtat. Als endlich alle am Tisch saßen und die Suppe in den Schüsseln war, wurde es still. Nur die Löffel klapperten ihr hungriges Lied. Paula hatte ihr Kinn fast in die Schüssel gesenkt und zwinkerte fröhlich ihre Schwester an. Paula war ein lustiges kleines Ding mit Sommersprossen auf der kecken Nase. Auch Jacob und Eduard hatten solche Sommersprossen und rotbraunes Haar. Emilie und Selma waren blond und zarthäutig wie die Mutter. Die Älteste fütterte die Kleinen. Abwechselnd bekam jeder einen Löffel Suppe in den Mund: Emilie – Edi – Emilie – Selma - Emilie. Ganz gerecht war es zwar nicht, aber nach dem arbeitsreichen Tag auf dem Feld hatte Emilie einen Riesenhunger. Wie zwei Vögelchen sperrten die Kleinen geduldig die Mäulchen auf, bis sie wieder an der Reihe waren. Auf Edis Stirn leuchtete eine Beule, aber zum Glück hatte er sie vergessen. Nach einer Weile wollte Selma nicht mehr essen, ihr fielen schon die Äuglein zu.
„Ob ich sie gleich so ins Bett lege – ohne Waschen?“, fragte Emilie Paula und blickte zweifelnd die Kleinen an.
„Ohne Waschen!“, rief Paula und klatschte in die Hände. Aber der staubige Sommertag hatte seine Spuren hinterlassen, alle drei mussten gewaschen werden. Emilie hatte sich ja selbst noch nicht einmal erfrischt. Draußen am Brunnen wurde Selma wieder munter. Quietschend rannte sie mit ihren Geschwistern nackt um den Brunnen, aus dem Emilie Wasser schöpfte und immer mal dem einen oder dem anderen einen Guss verpasste. Dann wusch sie sich selber, sammelte die Kleinen ein und wollte ins Haus. Plötzlich erschien am Gartenzaun zwischen den Büschen ein runzliges, altes Gesicht. Es war die Nachbarin, eine verrückte Alte, die leicht zornig wurde und dann mit dem Teufel drohte. Sie mochte der Grund dafür gewesen sein, dass man ihnen diese Hütte so billig vermietet hatte. Die Mutter hielt die Kleinen tunlichst von ihr fern, auch Emilie und Jacob gingen ihr nach Möglichkeit aus dem Wege.
Die Alte starrte die Kinder eine Weile durch die Zweige an. Emilie bemühte sich, die Nacktheit der Geschwister rasch mit Tüchern zu bedecken, denn die streng katholischen Menschen hier sahen solche Freizügigkeiten nicht gerne. Als sie zu der Alten schielte, hielt sie verwundert inne, denn diese grinste über das ganze verknitterte braune Gesicht. Dann lachte sie schrill, eine klauenartige Hand langte über den Zaun und zeigte auf die Kinder.
„Bald seid ihr weg – alle, alle weg!“ Die dünne Greisinnenstimme wurde lauter. „Wirst beim Satan wohnen – du!“, und dabei schaute sie Emilie fest in die Augen. Das Mädchen überlief es eiskalt. Schnell rannten sie ins Haus, obwohl noch einige Sachen draußen lagen. Emilie knallte die Tür zu und lehnte sich schwer atmend dagegen. Verstört drängten sich Selma und Eduard an ihre Beine. Paula war auf die Fensterbank geklettert und streckte die Zunge heraus.
„Paula, lass das!“, rief Emilie erschrocken und schloss schnell das Fenster. Sie wusste selber nicht, warum sie so aufgeregt war. Sonst nahmen sie die Alte nicht besonders ernst, wie überhaupt kaum jemand im Dorf. Doch heute war es anders.
‚Du wirst beim Satan wohnen! ‘ Was mochten diese Worte nur bedeuten? Emilie war bedrückt. Eine dunkle Vorahnung legte sich wie ein Schatten auf ihr unbekümmertes Gemüt.
Sie brachten den Vater auf einer Trage. Die Mutter hielt sich die Schürze vor den Mund und hatte verweinte Augen. Jacob stand hilflos im Wege herum. Emilie und Paula drückten sich verzagt an die Wand, als die vier Männer die Trage durch die enge Tür, am Tisch vorbei und in die Schlafkammer bugsierten. Keiner sprach ein Wort. Gingen sonst Besucher fort, brachte die Mutter sie vor die Tür, scherzte und grüßte die Daheimgebliebenen. Jetzt blieb sie in der Schlafkammer sitzen und kümmerte sich nicht um die Männer, die schweigend und mit versteinerten Gesichtern hinaus stapften.
Die Kinder versammelten sich still um die Mutter. Jacob Haisch lag im Sterben.
Sie hatten ein junges Ross beschlagen. Als Jacob den hinteren Huf anpassen wollte, ließ ein Gehilfe ein glühendes Stück Eisen fallen, das dem ängstlichen Tier direkt vor die Vorderfüße rollte. Das erschrockene Pferd keilte aus und versetzte Jacob einen kräftigen Tritt vor die Brust. Die Herbeieilenden hoben ihn auf, aber er stöhnte vor Schmerzen. Wahrscheinlich waren einige Rippen gebrochen oder die Lunge gequetscht. Der Pferdedoktor, der sich mit gebrochenen Rippen auskannte, betastete Jacobs Brust, schaute in dessen wachsbleiches Gesicht mit den blauen Lippen und stand auf.
„Ruft die Frau!“, sagte er leise zu den Umstehenden. „Es geht zu Ende.“
Eine Rippe hatte die Lunge durchbohrt. Der Transport gestaltete sich äußerst schwierig und dauerte lange, weil den Verletzten jede Bewegung schmerzte. Jetzt lag er hier und keuchte mühsam. Seine Familie stand und saß um ihn herum, alle weinten. Eine halbe Stunde später verlor Jacob das Bewusstsein.