Queenie. Doris Bühler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Doris Bühler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738014495
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das ist lange her.”

      “Ich heiße Oliver Brandström. Britta war meine Großmutter.”

      “Ihre Großmutter? - Aha! - Und warum kommen Sie zu mir?”

      “Gerade deshalb, weil sie mit ihr zur Schule gegangen sind. Sie ist bereits vor langer Zeit gestorben, ich habe sie leider nie kennengelernt. Ich möchte nur einfach herausfinden, was für ein Mensch sie gewesen ist. Sie müssen sie doch gut gekannt haben.”

      Sie lachte. “Tja, wer hätte die Britta nicht gekannt. Sie hat schließlich für reichlich Gesprächsstoff gesorgt in der Klasse.”

      Linda Johanns hatte ein Geräusch oben auf der Treppe gehört, reckte den Hals und griff nach Olivers Arm. “Kommen Sie rein, es muß ja nicht jeder hören, was wir zu besprechen haben.”

      Hinter der geschlossenen Korridortüre fuhr sie dann fort: “Obwohl es eigentlich kein Geheimnis ist, denn schließlich hat jeder gewußt, daß sie ein Flittchen war.”

      Oliver schluckte und schwieg, Frau Johanns schob ihn unbeirrt in ihr Wohnzimmer. “Es tut mir leid, daß ich Ihnen das sagen muß, aber das ist eine Tatsache, die sich nicht leugnen läßt.”

      Oliver setzte sich, ohne daß er dazu aufgefordert worden wäre. “Das müssen Sie mir schon näher erklären.”

      “Das werde ich, junger Mann, das werde ich.” Sie machte eine Pause, um ihre Worte noch eine Weile wirken zu lassen, dann fuhr sie fort: “Britta machte sich bereits im Alter von vierzehn mit Männern zu schaffen. - Sie müssen wissen, daß die Zeiten damals ganz anders waren, als heute. Damals hatte ein Mädchen in diesem Alter noch keine Ahnung von Sex und dergleichen. Wir wußten nicht viel über das andere Geschlecht oder gar über die Liebe. Das meiste reimten wir uns zusammen, es gab ja kaum jemanden, den wir danach hätten fragen können. Die Mädchen von heute sind in diesem Alter bereits junge Frauen, ich sehe das an meiner Nichte Claudia. Seit ihrem vierzehnten Geburtstag nimmt sie die Pille, und ich garantiere Ihnen, die braucht sie auch.” Sie seufzte. “Nun verstehen Sie vielleicht, warum uns Brittas Verhalten so schockiert hat. Sie war noch ein halbes Kind, als sie anfing, mit dieser Clique Halbstarker herumzuziehen. Wir anderen waren auch verliebt damals, oh ja! Wir schwärmten auch für den einen oder anderen Jungen, doch schon wenn uns einer ein bißchen länger anschaute, als notwendig, bekamen wir rote Köpfe. Und wenn gar einer versuchte, unsere Hand zu halten oder seinen Arm um unsere Schultern zu legen..., oh je...”, sie verdrehte die Augen, “...dann hatten wir gleich ein schlechtes Gewissen und fürchteten, schwanger zu werden.”

      Oliver mußte lächeln, worauf Frau Johanns ärgerlich fortfuhr: “Ja, lachen Sie nur. Sie haben ja keine Ahnung, wie das damals war. Erst in der neunten Klasse, als es mit der Tanzstunde losging, wurde es ein bißchen besser. Aber selbst dann waren die meisten von uns noch immer total verklemmt. Britta war anders, deshalb war sie für uns die Ausgeburt des Schlechten und des Bösen.” Sie hob die Schultern. “Natürlich beneideten wir sie insgeheim auch ein bißchen, vor allem, wenn sie mit diesem amerikanischen Straßenkreuzer von der Schule abgeholt wurde. Die Jungs, die wir kannten, fuhren höchstens mit dem Fahrrad. Ein Auto hätte sich keiner von ihnen leisten können, - abgesehen davon, daß sie nicht alt genug waren, um schon einen Führerschein zu haben.”

      “Ist es nicht zu hart, Britta deshalb gleich ein Flittchen zu nennen?”

      “Es waren immerhin drei oder vier junge Männer, mit denen sie ständig auf Tour war. Junge Männer, keine unfertigen Jungs, wie die, die wir kannten und die so wenig aufgeklärt waren, wie wir selbst. Schön, meistens war es der große Hübsche, der sie abholte, - die ganze Klasse beneidete sie um ihn und tuschelte hinter ihnen her. Wir gingen in eine Mädchenschule, müssen Sie wissen. Und wir alle hatten Fantasie genug, um uns vorzustellen, was da hinter den Kulissen ablaufen könnte.”

      “Wissen Sie, wer diese jungen Männer waren? Kennen Sie Namen?”

      “Warten Sie mal.” Frau Johanns spielte mit ihrem Ohrring, während sie überlegte. “Sie alle waren Söhne reicher Eltern, - was man damals, so kurz nach dem Krieg, als reich bezeichnen konnte. Vom Hörensagen wußte ich, daß einer von ihnen der Wilkens war, seine Eltern hatten eine gutgehende Fahrradwerkstatt. Dann war ein Mohrmann dabei, ein Junior vom Kaufhaus Mohrmann in der Gökerstraße, - das gibt es allerdings auch schon seit Jahren nicht mehr.” Sie nahm die Finger zu Hilfe, während sie weiter aufzählte. “Außerdem noch der Fabrikantensohn Brader und der Sohn vom damaligen Bürgermeister Roßmann.”

      Oliver hatte sein Handy gezückt und machte sich Notizen. Wilkens, Mohrmann, Brader und Roßmann tippte er in den Memory-Speicher ein. Möglicherweise würde er noch einmal über diese Namen stolpern.

      “Und welcher von ihnen war der große Hübsche, von dem alle so geschwärmt haben?”

      “Keine Ahnung. Ein paarmal fiel der Name Rock, aber welcher Familienname zu ihm gehörte, das weiß ich nicht.”

      In Gedanken sah Oliver wieder das Paßbild mit der Widmung vor sich. “Möglicherweise war Britta gar nicht so schlecht, wie Sie dachten. Vielleicht war sie tatsächlich nur mit Rock liiert.”

      “Ich bitte Sie! Sie wurde oft genug mit allen vieren in der Stadt gesehen.”

      Oliver wechselte das Thema. “Wie war sie eigentlich in der Schule? War sie eine gute Schülerin? Haben ihre Leistungen nicht sehr darunter gelitten, daß sie dauernd mit diesen jungen Männern auf Tour war, wie Sie sagen?”

      “Nein.” Frau Johanns schüttelte den Kopf. “Das wundert mich noch heute, sie war immer eine gute Schülerin. Weiß der Teufel, wie sie das gemacht hat.“

      “War sie irgendwie verändert in der zehnten Klasse, im letzten Jahr vor dem Abschluß?”

      “In der zehnten Klasse? Da war sie schon gar nicht mehr bei uns. Irgendwann in der neunten war sie plötzlich verschwunden. Manche behaupteten, sie sei mit einem ihrer Freunde durchgebrannt, andere erzählten, ihr Vater hätte das Haus verkauft und sei mit ihr in eine andere Stadt gezogen. Es wurde sogar gemunkelt, sie sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Sie wissen ja, wie das mit den Gerüchten ist, Genaues weiß niemand. Und falls die Lehrer wußten, was mit ihr los war, so schwiegen sie und gaben uns keinerlei Auskunft.”

      Sie wußte also nichts von Brittas Schwangerschaft, sagte sich Oliver, und er hielt es auch nicht für notwendig, daß sie davon erfuhr.

      “Wir weinten ihr nicht sonderlich nach, kaum eine von uns hatte sie besonders gemocht. Deshalb war sie auch bald vergessen.”

      Oliver stand auf. “Auch wenn Sie sie nicht mochten, ich danke Ihnen trotzdem dafür, daß Sie mir ein bißchen von ihr erzählt haben.”

      Frau Johanns hob die Schultern. “Es war nicht viel Gutes, was ich Ihnen berichten konnte.”

      Er lächelte. “Vielleicht war es nicht ganz so schlimm, wie Sie es damals empfunden haben. Es mag auch ein bißchen Eifersucht und Neid von Seiten der Klassenkameradinnen im Spiel gewesen sein, oder? Sicher hätten alle gern einen solchen Freund gehabt: Schon erwachsen, gutaussehend, mit Auto...”

      “Mmh!” Frau Johanns’ Miene schloß zumindest diese Möglichkeit nicht aus. “Aber wir anderen sind auch noch zurechtgekommen”, sagte sie dann, “wir haben alle einen Mann abgekriegt.” Und mit einem tiefen Seufzer fügte sie hinzu: “Wenn auch nicht immer den richtigen.”

      Sie begleitete Oliver zur Tür. “Haben Sie etwa vor, auch die vier Herren zu befragen, von denen ich Ihnen erzählt habe?”

      “Ich werde nach ihnen suchen, ja.”

      “Da bin ich aber neugierig, was die Ihnen erzählen werden.”

      Oliver lächelte. Sie war ganz sicher die Letzte, der er das, was er möglicherweise herausfand, berichten würde.

      Sie gab ihm die Hand. “So haben wir nun doch kein Geschäft miteinander machen können, junger Mann”, lächelte sie.

      “Das nicht, aber Sie haben mir trotzdem weitergeholfen. Ich danke Ihnen, daß sie bereit waren, mit mir über Britta zu reden.”