Queenie. Doris Bühler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Doris Bühler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738014495
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Hosen und einem schwarzen zotteligen Hund, auf einer Wiese einem Ball nach. Dann gab es Bilder vom Schuleintritt 1948, ein Gruppenfoto mit ihrer Schulklasse etwa fünf Jahre später, und eines zeigte sie als Konfirmandin, ein Gesangbuch in den Händen haltend. Ein weißes Spitzentüchlein mit einem kleinen Strauß Maiglöckchen lag darauf. Sie schaute sehr ernst in die Kamera, sie schien sich der Wichtigkeit dieses Tages durchaus bewußt zu sein.

      Auf anderen Fotos waren junge Leuten zu sehen, lachende junge Männer mit Koteletten und der berühmten Tolle der Fünfziger-Jahre, aufgenommen vor einem Auto, für das ein Liebhaber inzwischen ein Vermögen auf den Tisch gelegt hätte. In einem Lokal prosteten sie einander mit Bier- und Cola-Flaschen zu. Dazwischen Britta mit Pferdeschwanz und Pony, in weiten, durch Pettycoats aufgebauschten Röcken. Sie war ein sehr hübsches Mädchen gewesen.

      Oliver war aufgefallen, daß einer der jungen Männer auf fast allen dieser Fotografien zu sehen war, und ein kleines Paßbild von ihm berührte ihn ganz besonders, denn auf der Rückseite stand eine Widmung:

       "Für meine kleine Queenie in ewiger Liebe - Rock."

      Sollte dieser Mann, der sich Rock nannte, sein Großvater sein? Oliver suchte in dem fremden Gesicht nach Merkmalen, die möglicherweise in seinem eigenen Spiegelbild wiederzufinden waren, doch obwohl sie beide dunkelhaarig waren, gab es keine Gemeinsamkeiten. Bereits seit seiner Kindheit war ihm immer wieder versichert worden, daß er äußerlich ganz der Familie Brandström nachschlug.

      Außer den Fotos und den Dokumenten, die aus einem ärztlichen Attest über eine Schwangerschaft, der einige Monate später ausgestellten Geburtsurkunde seiner Mutter Julia und der Geburts- und Sterbeurkunde von Britta Warrings bestanden, hatte sich noch ein dünnes Goldkettchen mit einem Kreuz als Anhänger in der Schatulle befunden. Oliver nahm es auf, legte es auf seine Handfläche und betrachtete es nachdenklich. Auf der Rückseite war derselbe Name eingraviert, der auf dem Foto stand:

       Rock

      . Hatte Britta dieses Kreuz getragen? Oder gehörte es dem fremden jungen Mann, der vielleicht sein Großvater war?

      Er holte tief Luft, legte das Schmuckstück an seinen Platz zurück und nahm noch einmal die Geburtsurkunde seiner Mutter zur Hand.

       Julia Margarete Warringsgeboren am 12. Mai 1958

       Mutter: Britta Warrings, wohnhaft in Wilhelmshaven

       Vater: unbekannt.

      Wohnhaft in Wilhelmshaven! Aber wo?. fragte sich Oliver. Wenn er herausfand, wo Britta damals gewohnt, wo sie sich aufgehalten hat, ließen sich vielleicht ehemalige Nachbarn finden, die sich noch an sie erinnern konnten.

      Auf der Rückseite der Geburtsturkunde wurde Julias Taufe bescheinigt, ausgestellt von der Dreifaltigkeits-Gemeinde in Wilhelmshaven-Voslapp. Unterschrieben war sie von einem gewissen Pfarrer Worthmann. Die beiden angegebenen Paten hießen Agnes Fleischer und Frauke Zimmermann.

      Oliver nickte. Voslapp! Das war doch zumindest ein kleiner Hinweis, sagte er sich. Ein Punkt, an dem er ansetzen konnte. Er würde sich an die Kirchengemeinde wenden, und mit etwas Glück konnte er vielleicht sogar die beiden Paten ausfindig machen.

      Er breitete den Wilhelmshavener Stadtplan vor sich aus, suchte nach dem Stadtteil Voslapp und fand ihn schließlich ganz im Norden der Stadt. Sogar die Dreifaltigkeits-Kirche war auszumachen, sie war durch ein kleines schwarzes Kreuz gekennzeichnet.

      Er unterdrückte ein Gähnen und schaute auf seine Armbanduhr. Es war spät geworden. Zeit, schlafen zu gehen. Morgen würde er mit der Suche beginnen, und vielleicht wußte er bis zum nächsten Abend schon ein wenig mehr.

      Am darauffolgenden Morgen, gleich nach dem Frühstück, rief er im Büro der Evangelischen Dreifaltigkeit-Gemeinde in Voslapp an und trug sein Anliegen vor. Die Frauenstimme am anderen Ende der Leitung bat ihn freundlich um etwas Geduld.

      “Die Schwierigkeit ist folgende”, erklärte sie ihm, “zur damaligen Zeit hat es diesen Kirchenbau, wie Sie ihn heute sehen, noch gar nicht gegeben. Bis Anfang der Sechziger-Jahre diente eine Art Baracke am anderen Ende der Straße als behelfsmäßige Kirche, das war die Dreifaltigkeits-Kapelle. Alle Unterlagen aus der damaligen Zeit lagern zwar hier bei uns, aber unten in den Kellerräumen im Archiv.” Sie machte eine kleine Pause. “Es ist keine Sache von zehn Minuten, die entsprechenden Bücher herauszusuchen. Doch wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben, könnte ich Sie benachrichtigen, sobald ich etwas gefunden habe.”

      “Das wäre sehr nett von Ihnen”, antwortete Oliver und gab ihr seine Handy-Nummer durch. Doch schon während er sich von ihr verabschiedete, ging ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf: Die Schule! Britta Warrings mußte in jedem Fall eine Schule besucht haben. Selbst, wenn er bei jeder einzelnen nachfragen müßte, irgendwann würde er die richtige herausfinden, und logischerweise sollte er mit der Voslapper Grundschule beginnen.

      Dort erging es ihm allerdings nicht sehr viel anders, als bei der Kirchengemeinde. Das Schulbüro vertröstete ihn auf später, da man zuerst die alten Unterlagen aus dem Archiv heraussuchen müsse, und das sei schwierig zur Zeit, weil man durch Urlaubsausfälle nur über halbe Besetzung verfüge.

      Oliver seufzte. Natürlich, damit hatte er rechnen müssen, sagte er sich. Nach über vierzig Jahren konnte er nicht erwarten, daß die entsprechenden Institutionen alles parat liegen hatten, wenn er kam. Resigniert schob er sein Handy in die Tasche zurück und überlegte. Welche Möglichkeiten blieben ihm sonst noch? - Aber ja! Warum hatte er nicht gleich daran gedacht: Die Warrings! Ganz sicher würde er einige Leute mit diesem Namen im Telefonbuch finden, und warum sollte nicht der eine oder andere, - zumindest weitläufig, - mit Britta verwandt sein?

      Es gab achtzehn Eintragungen unter dem Namen Warrings, doch keiner dieser Leute wohnte in Voslapp. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sie alle der Reihe nach anzurufen und darauf zu hoffen, Erfolg zu haben. Nicht immer stieß er auf Verständnis, wenn er sein Anliegen vorbrachte, und ein paarmal schien er gar für einen Tunichtgut gehalten zu werden, der seine Mitmenschen zum Narren halten wollte.

      “Was sagen Sie? - Verwandte in Voslapp? - Das geht Sie gar nichts an.” Und schon war die Verbindung unterbrochen. Andere hielten es für eine Masche, mit der er versuchen wollte, Kontakte zu knüpfen.

      “Sie suchen eine Dame namens Warrings? Bingo! Sie haben eine gefunden. - In Voslapp? Nein, ich wohne in der Innenstadt. Aber das macht doch nichts, wir könnten uns doch trotzdem mal treffen, oder? Von mir aus könnten wir uns auch nebenbei über Ihre Britta unterhalten.” Sie lachte anzüglich.

      Nur eine alte Dame schien ihn ernst zu nehmen. Daß sie alt war, hörte er an der zitterigen Stimme, mit der sie ihm antwortete. “In Voslapp? Ja, da hat ein Cousin meines Mannes gewohnt, der Karl. Aber das ist lange her. Ich glaube, er ist bereits in den Fünfziger-Jahren gestorben.”

      “Erinnern sie sich daran, ob er eine Tochter gehabt hat?”

      “Ja, er hatte eine. - Oder einen Sohn? Ich weiß es nicht mehr so genau. - Warten Sie mal. - Doch, ich denke, es war eine Tochter.”

      “Und wissen Sie auch noch, wo in Voslapp er gewohnt hat? In welcher Straße?”

      “Ich glaube, in der Tiarkstraße. Ja, - da bin ich mir sogar ganz sicher, weil man von seinem Garten aus auf den Deich gehen konnte. Da gab es so einen kleinen Steg über den Graben...”

      “Und die Hausnummer?”

      “Momentchen mal! - Vielleicht die 24? Oder die 42? - Auf jeden Fall war es nicht weit weg von der Schule. Wenn man sonntags...”

      Oliver hatte genug gehört. Zumindest so viel, daß er nun mit seiner Suche beginnen konnte: In der Tiarkstraße vor dem Deich. Ob Hausnummer 24 oder 42, das spielte keine Rolle, er würde es finden.

      “Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen”, unterbrach er die alte Dame, doch sie schien unbedingt loswerden zu wollen, was ihr zu den Sonntagen eingefallen war. “An jedem Sonntag...”

      “Bitte entschuldigen Sie, Frau Warrings. Ich würde Ihnen gern noch eine Weile zuhören,