Sie und Tobi blieben zurück und fühlten sich hundeelend. Daran konnte auch Hannahs heißer Kakao mit Sahne nichts ändern. Bald schon waren Vater und Sohn wieder zurück und Max präsentierte stolz seinen Gips, auf dem sie sich als Erste verewigte. Die nachträgliche Standpauke kam zwar spät, aber sie kam, und seither hatte niemand von ihnen auch nur einen Fuß auf einen dieser Bäume gesetzt.
Das war nun gut zwanzig Jahre her, doch ihre Freundschaft hatte bis heute Bestand. Zumindest zu Max. Ihre Gefühle und Zuneigung zu Tobias hatten sich erst viel später eingestellt. Mit der flachen Hand gab sie der Rinde noch einen Klaps und wandte sich um, ohne jedoch den Weg fortzusetzen.
Nik stand gut zehn Meter entfernt von ihr am Grill und stocherte gedankenversunken in der Glut umher. In der anderen Hand hielt er eine Flasche Bier, aus der er hin und wieder einen Schluck trank. Den grünen OP-Kasack hatte er gegen ein frisches Shirt und eine graue Kapuzenjacke mit der weißen Aufschrift Abercrombie & Fitch eingetauscht. Es war ein Weihnachtsgeschenk seines Sohnes und Chris mochte diesen Hoody sehr an ihm. Bei dem Gedanken verstand sie endlich, wie allein er sich in den letzten Wochen gefühlt haben musste. Und wenn sie ganz ehrlich zu sich war, hatte sie eigentlich vorgehabt, unter irgendeinem Vorwand nicht hier sein zu müssen. Doch jetzt, als sie sah, wie verloren er wirkte, kam es ihr gut und richtig vor, der Einladung gefolgt zu sein.
Was war nur aus diesem immerwährend glücklichen und positiv denkenden Menschen geworden? Wieder überkam sie das schlechte Gewissen, nur an ihre Probleme gedacht zu haben, und war sofort sauer auf sich und ihren verdammten Egoismus. Anni hatte recht. Die Ablenkung konnte ihm nur guttun. Und ihr wohl auch, zumindest hoffte sie das.
Nik nahm einen letzten Schluck und stellte die leere Flasche auf den kleinen Tisch direkt neben dem Grill ab. Dann drehte er sich mit dem Rücken zu ihr, stopfte seine Hände in die Jeans und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Chris beschloss, ihr kleines Versteck aufzugeben und sich zu zeigen. Sie ging den kleinen unauffälligen Weg weiter hinüber zur Terrasse.
Dieser Teil des Gartens erschien immer sehr gepflegt, wenngleich die Beete schon bessere Tage gesehen hatten. Sie nahm sich vor, in der kommenden Woche einfach neue Blumen zu pflanzen und den Rest vom Unkraut zu befreien. An dem großen Tisch angekommen stellte sie den Nudelsalat in der Mitte ab. Etwas abseits, mehr im Schatten gelegen, entdeckte sie einen Kasten mit gemischten Getränken. Sie nahm für sich ein Radler und eine weitere Flasche Bier für Nik heraus. Dann drehte sie sich wieder zu ihm um und ihr Herz fühlte sich schwerer denn je an. Nik stand unverändert da und hatte immer noch keine Notiz von ihr genommen. Sie ging zu ihm hinüber und reichte ihm die Flasche.
„Salut!“, sagte sie und hielt ihm ihre Flasche entgegen. „Auf dich.“
„Danke.“ Er lächelte sie freundlich an und ließ seine Flasche gegen ihre gleiten, sodass ein klangvolles Geräusch entstand. Minutenlang standen sie nebeneinander und schauten über die Wiesen und Wälder seines riesigen Anwesens. Bis auf das gelegentliche Knistern der Holzkohle und den aufgebrachten Gesang einer Amsel war rund um den Hof kaum etwas anderes zu hören.
„Ich hab ehrlich gesagt gar nicht mit dir gerechnet“, unterbrach er plötzlich die Stille und betrachtete sie eindringlich.
„Ich wurde genötigt“, überspielte sie die Bemerkung und fügte noch hinzu. „Ich hoffe doch, du hast trotzdem noch etwas Essbares für mich eingeplant?“
„So viel du willst.“
Er wandte sich wieder von ihr ab und seine Miene wurde ernster.
„Chris?“
„Mhh?“
„Ich wollte dich etwas fragen.“
„Schieß los.“
„Könntest du dir vorstellen, wieder mehr für mich zu arbeiten? Anni würde sich über etwas mehr Unterstützung bestimmt sehr freuen. Ich im Übrigen auch.“
„Das kommt jetzt sehr überraschend. Ich ...“
„Du musst das nicht sofort entscheiden. Es ist nur so …“ Er schaute sie wieder an. „Ich denke einfach, Tobias hätte nicht gewollt, dass du aufhörst zu leben. Es ist an der Zeit, loszulassen. Findest du nicht?“
Chris hielt inne, schlug die Arme übereinander und schaute ihn vorwurfsvoll an.
„Sag mal, nimmst du dir deine Ratschläge manchmal auch selber zu Herzen?“ Sie klang schroffer als eigentlich beabsichtigt, aber er tat es schon wieder. Er stellte seine eigenen Probleme und Bedürfnisse zurück, nur um für sie da zu sein. Damit sie sich besser fühlte. Das machte sie wütend, obwohl dafür ja eigentlich kein Grund bestand. Er meinte es nur gut. Er meinte es immer gut. Aber diesmal sollte er keine Chance bekommen, von sich abzulenken. Chris hatte sich fest vorgenommen, ihn heute aus der Reserve zu locken, aber als sie seinem erschrockenen Gesichtsausdruck begegnete, wurde sie wieder sanfter.
„Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht so anfahren. Du hast ja recht. Aber ich bin noch nicht so weit. Im Übrigen …“ Sie bemerkte erst jetzt, wie angespannt sie innerlich war. Ihr ganzer Körper schien vor Unsicherheit zu vibrieren. Sie löste sich etwas von ihm, trat ein Stück zur Seite und überlegte, wie sie am besten anfangen sollte, ohne ihn zu verärgern.
„Ich glaube einfach, jetzt wäre mal der ideale Zeitpunkt, über dich zu sprechen. Darüber, was in letzter Zeit mit dir los ist.“ Sie wandte sich langsam zu ihm um und wartete auf eine Reaktion. Er hob eine Augenbraue.
„Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was du meinst.“
„Ach bitte, Nik. Du hast wirklich viele Talente. Schauspielerei gehört nicht dazu.“
„Touché!“ Er hielt sich eine Hand vor die Brust und wirkte belustigt. „Ich dachte wirklich, ich hätte es drauf.“ Er machte einen Schmollmund, aber seine Heiterkeit erreichte seine Augen nicht. Sie wusste, was er vorhatte. Nämlich von seiner eigenen Unsicherheit abzulenken.
„Bitte, tu das nicht.“
„Was?“
„Hör auf, dich immer verstellen zu wollen. Du läufst schon seit einiger Zeit neben der Spur. Und außerdem …“, sie blickte wieder verlegen zur Seite, „... weiß ich ohnehin schon längst Bescheid. Anni hat mir gesagt, dass du Streit mit Claudia hattest. Schon wieder.“
Ein Muskel in seinem Kiefer fing gefährlich an zu zucken und Chris hatte Angst, zu weit gegangen zu sein.
„Konnte ich mir ja denken, dass da jemand seinen Mund wieder nicht halten konnte“, presste er hervor.
„Das ist nicht fair von dir. Sie macht sich auch nur Sorgen, genau wie wir alle. Wir wollen dir doch nur helfen. Aber du lässt seit Wochen keinen an dich heran. Es ist, als wenn du zwischen zwei Welten pendelst.“
„Ich weiß …“ Er atmete tief durch.
„Bitte, sei nicht wütend auf Anni.“
„Bin ich ja nicht.“
„Dann rede endlich mit mir. Wie schlimm ist es diesmal?“ Chris ließ ihn jetzt nicht mehr aus den Augen.
„Ich gehe davon aus, dass unsere Ehe beendet ist.“
Er wandte sich von ihr ab und trank einen weiteren großen Schluck von seinem Bier. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, ein Aufblitzen in seinem Augenwinkel ausgemacht zu haben, war sich aber nicht sicher.
„Weiß Max schon davon?“
„Nein, und dabei will ich es auch erst mal belassen. Noch ist nichts entschieden.“
„Meinst du nicht, er hat ein Recht darauf, es zu erfahren?“
„Dafür bleibt noch genug Zeit. Können wir vielleicht wieder über etwas