Das Asperger Syndrom:
Helle Aufregung herrscht auf der Kommandobrücke. Die Offiziere der Sternenflotte verfolgen mit bangem Blick das Geschehen auf dem riesigen Schirm. Der Kapitän und eine Handvoll Besatzungsmitglieder wurden in ihrem kleinen Raumgleiter vom grausamen Herrscher des Planeten entführt. Dem Erkundungstrupp droht die ewige Sklaverei und der erfolgreichen Fernsehserie das vorzeitige Aus. Vom Maschinenraum kommen pausenlos Schadensmeldungen, Befehle werden hektisch gebrüllt. Nur ein Offizier mit spitzen Ohren bleibt ruhig, zieht eine Augenbraue nach oben und kommentiert das Drama mit einem schnöseligen „faszinierend."
Ein paar Sternzeiten später will ein Roboter in Menschengestalt und mit tuntigem Make-up wissen, weshalb seine Kollegen im Raumschiff über Witze lachen. Er setzt sich deshalb einen Chip für menschliche Emotionen ein. Der Zuschauer erkennt, dass der Wandel vom Hochleistungscomputer zum Menschen erfolgreich war, als sich auf dem Gesicht des Androiden ein dämliches Grinsen zeigt.
Diese Science Fiction Figuren haben eine Gemeinsamkeit mit Wolfgang Amadeus Mozart, Albert Einstein und Sir Isaac Newton. Sie alle können als Werbeträger einer Störung aus dem Autismus Spektrum herhalten: dem Asperger Syndrom.
Das Asperger Syndrom ist eine Krankheit, die unter diesem Namen erst 1944 erfunden wurde. Sie erfreut sich vor allem unter gesunden Menschen immer größerer Beliebtheit, weil man den einen oder anderen Spleen elegant als medizinischen Vorfall erklären kann. Menschen mit Asperger sind nämlich eigentlich ganz clevere Kerlchen, aber sie haben etwa so viel Einfühlungsvermögen in ihre Mitmenschen wie ein Urologe beim Harnröhrenabstrich. Das fehlende Softwareprogramm für zwischenmenschliche Beziehungen, eine gewisse Verbohrtheit in wenige Interessen und ein oft ungebremster Redeschwall sind die wichtigsten Zutaten für diesen Störungscocktail.
Auf Partys erkennen Sie den Asperger sofort. Er ist das Abflussloch der guten Laune. Unterhält sich lachend eine Gruppe von Gästen, dann stellt sich der Asperger dazu, ohne jemanden direkt anzuschauen. Kaum hat er angefangen zu reden, verabschieden sich die anderen mit einem "Äh, tja also" und suchen sich neue Gesprächsgruppen. Ein typischer Aspergerauftritt sieht ungefähr so aus: Im Anschluss an eine Wahlparty vergleichen Sie das gerade bekannt gegebene vorläufige Endergebnis der Wahl mit den Wahlergebnissen der ehemaligen DDR. Sofort spult der Asperger seinen monoton gehaltenen Text herunter, wonach es keine ehemalige DDR gibt, weil auch keine aktuelle existiert. Die DDR, so geht der Vortrag weiter, habe von 1949 bis 1990 bestanden. Und es gibt nur die eine. Goethe, der von 1749 bis 1832 lebte, bedürfe schließlich auch nicht der speziellen Bezeichnung als ehemaliger Goethe. Diese wie ein tibetisches Mantra vorgetragene Rede schlägt Sie natürlich in die Flucht und Sie bekommen die Zurechtweisung nicht mehr mit, wonach das vorläufige Endergebnis ein Widerspruch in sich ist.
Allerdings wirken nicht nur Menschen mit Asperger Syndrom auf ihre Umwelt befremdlich wie die eingangs beschriebenen Raumfahrer aus unendlichen Weiten. Auch der Asperger selbst hat oft das Gefühl, dass um ihn herum nur Freaks unterwegs sind. Er ähnelt dabei einem Autofahrer, der sich auf der Autobahn über die vielen Geisterfahrer aufregt. Das Asperger Syndrom wird daher auch als Wrong-Planet-Syndrom bezeichnet, weil der Betroffene glaubt, dass er auf dem falschen Planeten gelandet ist. Dieses Gefühl, auf dem falschen Planeten zu sein, kennt allerdings auch jeder so genannte Normalo, der einmal zur Rush Hour mit der U-Bahn gefahren oder über den Weltkirchentag gelaufen ist. Und eben hier liegt die Chance des Asperger Syndroms für gestresste Eltern. Die Grenzen zwischen einem Asperger und einem Gesunden sind fließend. Kriterien des Asperger Syndroms wie zum Beispiel unbeholfene, linkische Körpersprache, unangemessene Ausdrucksweise und eigenartig starrer Blick hat auch jeder gewöhnlicher Mann schon einmal gezeigt, der eine attraktive Frau ansprechen wollte. Während also Asperger Patienten versuchen, sich vom Stigma der Krankheit freizuschwimmen und ihre Art zu leben einfach als eine andere Form der Normalität bewerten, haben Eltern eines Kindes, das bei der Mannschaftsaufteilung auf dem Sportplatz immer als letztes übrig bleibt, endlich eine Diagnose. Und das ist heutzutage auf Familienfesten eine große Hilfe. Denn einen kleinen Klugscheißer, der nicht weiß, wann er die Klappe halten soll, hat man schnell mal in der Sippe. Da muss man als Elternteil nur im Internet den Pornokanal und die Horrorvideos sperren, und schon bleibt dem Kleinen nichts anderes übrig, als sich unnützes akademisches Wissen anzueignen. Und wenn beim nächsten Familientreffen die Tanten mit säuerlichem Blick von Ihrem kleinen Kotzbrocken die Welt erklärt bekommen, dann können Sie als Eltern gelassen mit den Schultern zucken: "Er hat das Asperger Syndrom, ist unheilbar." Sofort hebt sich die Stimmung bei Ihren Verwandten wieder, denn alle wissen: Hier doziert gerade ein künftiger Wissenschaftler oder Künstler vor ihnen. Und selbst wenn es nicht für höhere Sphären reichen sollte - zum Lehrerberuf ist der kleine Sonderling allemal geeignet. Denn typische Asperger Symptome wie zum Beispiel fehlendes Einfühlungsvermögen in zwischenmenschliche Beziehungen, seltsame Spezialinteressen und ein ungebremster Redeschwall, egal ob jemand zuhört oder nicht, klingen schließlich wie die Stellenbeschreibung für das Lehramt.
Störungen des Sozialverhaltens:
Tim ist 13 Jahre alt. Kurz vor Weihnachten klaut er seinem Vater die EC Karte und geht mit einem Freund Geschenke einkaufen - für sich, aber auch für die Eltern. Kurz vor Ostern hat er auf dem Heimweg vom Fußballtraining keinen Bock zu laufen und schwingt sich auf ein altes Fahrrad, das unverschlossen an einem Zaun lehnt. Als Tim auf dem Pausenhof im allgemeinen Gejohle einen Kumpel aus Spaß in den Schwitzkasten nimmt, hätte dies wohl niemand für erwähnenswert empfunden, wäre da nicht zufällig ein Lehrer gewesen, der kurz zuvor ein Seminar zum Thema Gewalt unter Jugendlichen besucht hatte. Yannick ist 15 und wird wegen seiner schlechten Noten in Mathe vom Lehrer vor der Klasse gerne mal als künftiger Harzer bloßgestellt. Weil er nicht einsieht, was ihm eine solche Schule bringen soll, bleibt er lieber zuhause und ballert am Computer - manchmal 10 Stunden am Tag. Wenn er nachts die Welt vor Zombies gerettet hat, bekommen ihn die Eltern morgens natürlich nicht wach und schon gar nicht in die Schule. Als es Yannicks Vater zu blöd wird und er den Computer wegsperrt, rastet Yannick aus und zerschlägt mit einem Stuhl den nagelneuen Flachbildschirm der Eltern. Diese beiden Jungs haben eine Gemeinsamkeit: Noch vor ein paar Jahren wären sie als völlig normale Teenager durchgegangen, denen man eben mal von Zeit zu Zeit die Leviten lesen muss. Heute haben beide die fachärztliche Diagnose Störungen des Sozialverhaltens gemäß F91, aufgeführt im ICD 10, dem internationalen Verschlüsselungscode aller internationalen Krankheiten. Diese Diagnose ist die Geheimwaffe im Kampf gegen Kinder. Es ist die Killerdiagnose schlechthin, mit der das Augenmerk von den unfähigen Eltern auf jene Kinder gelenkt wird, bei denen keine andere Beeinträchtigung gefunden werden kann. Vielleicht ist der Nachwuchs nicht schnell oder langsam genug, dass ein Aufmerksamkeitsdefizit passen könnte. Oder Ihr Kleiner ist bei Gleichaltrigen beliebt und geht selbst bei wohlwollender Betrachtung nicht als Asperger durch. Dann ist die Störung des Sozialverhaltens der Schrotflintenschuss unter den Diagnosen, mit dem Sie selbst noch mit verbundenen Augen treffen. Sie müssen nicht einmal zielen, sondern einfach nur irgendwie draufhalten. Die hohe Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Kind eine Störung des Sozialverhaltens und somit eine anerkannte Krankheit hat, gründet darauf, dass wohl jedes halbwegs normal entwickelte Kind und jeder Jugendliche die entsprechenden Symptome im Laufe seiner Entwicklung zeigt. Das problematische Verhalten muss, damit die Diagnose passt, mindestens ein halbes Jahr auftreten. Das ist kein Kunststück beim aufsässigen, rebellischen Austesten von Grenzen, wie es bislang als völlig normal und gesund für Halbstarke in der Pubertät angesehen wurde. Als Eltern können Sie sich heutzutage ruhig zurücklehnen und mitleidig über die Erkrankung Ihres Kindes den Kopf schütteln, wenn Ihr Sprössling beispielsweise