Er hatte nicht einmal die Miene verzogen oder Bedauern darüber gezeigt, dass er am Leben seines Sohnes so gut wie gar nicht beteiligt war. Julian packte seine Sachen und flüchtete in sein Zimmer.
Dort angekommen, ließ er sich auf das Bett fallen und starrte an die Decke, auf der mit Ölfarbe das Meer abgebildet war: Hohe Wellen türmten sich an einer steilen Klippe, auf deren Rand ein Leuchtturm stand. Jack hatte recht gehabt: Seine Mutter war eine Künstlerin gewesen - nicht nur als Schnitzerin, auch als Malerin. Julian hatte sich in den vergangenen Jahren jede Erinnerung an sie so gut es ging bewahrt. Werke aus Holz und Figuren, die sie hergestellt hatte, lagerten in einer Vitrine an der Wand, gleich neben seinem Schreibtisch und dem Bücherregal.
Auch zwei ihrer Bilder, eines von dem Ausblick auf das Meer vom Dachfenster ihres Hauses aus, das andere von dem Rundturm der Klostersiedlung Glendalough, dessen Spitzturm imposant in den Himmel ragte.
Deshalb hatte er ein mulmiges Gefühl, wenn er an den morgigen Tag dachte. Zum einen die Sache mit Leslie, zum anderen einen Ort zu besuchen, der auch seine Mutter fasziniert hatte, machten ihn nervös. Doch der Streit mit seinem Vater ließ ihn seine Sorgen vergessen. Wann immer er durch dessen Verhalten verletzt worden war, hatte seine Mutter ihn wiederaufbauen können, sei es mit ihren Hinterlassenschaften oder dem einzigen Hobby, dem er sich neben seiner Schullaufbahn und dem Schwimmen widmete: dem Schnitzen.
Julian stand auf und ging hinüber zu seinem Schreibtisch, öffnete die Schublade und holte ein halb fertiges Modell einer Figur heraus. Aus dem Holz war bereits eine klar umrissene Form eines Menschen entstanden. Julian warf noch einen Blick auf das Bild seiner Mutter: Der Rundturm prägte die Szenerie im Hintergrund. Ein blauer Himmel war über den kleinen Bäumen erkennbar, und betrachtete man den Fluss und die grüne Wiese, die Lea Thierney damals vor Augen gehabt hatte, wurde deutlich, dass es ihr wichtig gewesen war, genau diese Stelle festzuhalten.
Die Wiese und das Kiesbett im Fluss waren detailliert dargestellt, selbst das Licht, das von der Sonne reflektiert worden war, schien auf der Oberfläche zu glitzern.
Doch diese feinen farbenprächtigen Wunder der Natur waren nicht der Grund dafür, warum Lea dieses Bild am meisten fasziniert hatte. Als seine Mutter dieses Bild von einem Wochenendausflug angefertigt hatte, war Julian acht Jahre alt gewesen.
Sie hatte es ihrem Sohn am Abend vor dem Zubettgehen auf eine Staffelei gestellt und gesagt: „Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Ich saß an vier verschiedenen Tageszeiten an diesem Ort und habe versucht, ihn so abzubilden, wie er mir in seiner Gesamtheit vorkam. Doch ich war zu keinem Zeitpunkt allein.“
Julian hatte damals nicht begriffen, was seine Mutter damit meinte, und es verging kein Tag, an dem er nicht auf das Bild gestarrt hatte und trotzdem nicht fündig geworden war.
Schließlich ließ ihn ein Zufall über die Lösung des Rätsels stolpern: Es war ein warmer Sommertag gewesen und Julian war nach einem harten Trainingstag in den Fluten nach Hause gekommen. Die untergehende Sonne hatte durch das Fenster geschienen und Leas Pinselführung neue Schattierungen verliehen.
Julian bemerkte sie zum ersten Mal, als er das Bild von der Tür aus betrachtete: Es war die Silhouette einer jungen Frau, die sich im Grün der Wiese verbarg. Man konnte nicht viel erkennen, lediglich ihre klaren Umrisse und die charakteristisch schmalen Augen. Julian war damals nicht sicher gewesen, ob er sich diese Person nicht doch eingebildet hatte. Seitdem hatte er das Bild unter die Lupe genommen, verschiedene Lichtquellen ausprobiert und sich an einer exakten Nachbildung der unbekannten Frau in Holz versucht. Doch sie war noch nicht vollendet.
Julian nahm das Holzstück und sein Schnitzmesser zur Hand und steckte beides in den Rucksack, der neben dem Schreibtisch stand.
Dieser weitaus wichtigere Grund trieb ihn an dem Kultur-Projekt seiner Schule an und er hoffte, womöglich eine weitere Erinnerung an seine Mutter festhalten zu können.
Wen auch immer Lea Thierney damals gesehen hatte: Julian war fest entschlossen, es herauszufinden.
Kapitel 5
Die erste Nacht war herangebrochen und ich saß in meinem sicheren Unterschlupf und sortierte die gesammelten Kleidungsstücke neu.
In erster Linie ging es darum, die Kälte, die durch den Höhleneingang drang, abzuschütteln, indem ich mir ein improvisiertes Bett herrichtete.
Solange ich mich in meinem Winterschlaf befand, machte mir die Kälte nichts aus.
Doch heute war jede Stunde, in der sich die kalten Temperaturen im Tal und auf der Insel ausbreiteten, eine Tortur für mich. Ich fühlte mich schwach und konnte dank fehlender Sonne nur bedingt Energie tanken. Wenn das so weiterging, würde meine Fähigkeit, mich unsichtbar zu machen, versagen. Da half auch der Irrglaube, Feen seien unsterblich, nichts. Doch selbst wenn ich Merlins Rat befolgen wollte, stellte dies eine weitere Herausforderung dar:
Zwar besaß ich keine Flügel, die ich verbergen musste, doch wenn ich die Informationen, die ich brauchte, nicht innerhalb weniger Tage erhielte, würden sich die Menschen unweigerlich fragen, woher ich kam und wer ich war.
Ich lag noch lange auf meinem improvisierten Bett aus alten Decken und zwei Winterjacken und grübelte.
Tief in meinem Inneren wusste ich, dass es die einzige Wahl war, die ich noch hatte, bevor ich endgültig in Betracht ziehen musste, die Königin aufzusuchen.
Mein Versuch einzuschlafen wurde von Erinnerungen an vergangene Jahre vereitelt, als der Frühling mich geweckt und die Wärme mich durch die Wälder und Berge hatte wandeln lassen wie ein frisch geschlüpfter Schmetterling, der zum ersten Mal die Flügel ausbreitet. In unsichtbarem Zustand war ich für die Menschen praktisch nicht zu sehen, doch es hatte Momente gegeben, in denen ich den Eindruck hatte, dennoch erkannt worden zu sein:
Eine Angestellte im Hotel namens Katie Sullivan, die in den 1960er-Jahren als Kellnerin dort beschäftigt gewesen war, hatte sich unter anderem als Hobby-Ornithologin herausgestellt und dabei in den umliegenden Wäldern Vögel beobachtet. So war sie auch an Orte gekommen, die Wanderer und Touristen in der Regel nie zu sehen bekamen.
Ich war ihr insgesamt dreimal über den Weg gelaufen und es faszinierte mich, mit welcher Präzision sie die Vögel beobachtete, ihr Nistverhalten dokumentierte und selbst ihre Lockrufe imitieren konnte. Wenige Tage nach unserer letzten Begegnung wurde Katie tot auf einem der Wanderwege aufgefunden. Die Polizei hatte die komplette Klostersiedlung abgesperrt und es wurde allerorts von Menschen gemunkelt, dass
es sich um einen Mord gehandelt habe.
Doch Katies Leiche, so wurde mir bald klar, hatte keinerlei Wunden aufgewiesen. Es war, als sei ihr Herz einfach stehen geblieben.
Der zweite Mensch, dem ein ähnliches Schicksal widerfahren war, saß Anfang der 90er-Jahre jede Woche vor einem kleinen Café hinter dem Hotel, das Postkarten und Souvenirartikel verkaufte: Bob Whiley, der Landstreicher.
Früher war er Farmer gewesen, doch als seine Ehe in die Brüche ging und sein Haus von der Bank gekauft wurde, landete er auf der Straße. Während ich meine Streifzüge durch die Gegend machte, roch es bei ihm stets nach einer Flasche Gin. Bob hatte sich nie pöbelnd oder auf eine andere Art und Weise Aufmerksamkeit verschafft, auch wenn Touristen ihn zu Anfang misstrauisch beäugt hatten.
Für viele Jahre war er für mich eine Art stiller Verbündeter geworden. Wir teilten ein ähnliches Schicksal. Bis ich den Fehler beging, mich ihm zu nähern:
Ich hatte mich einen Tag lang auf eine Mauer gesetzt, die dem Café und Bobs Stammplatz gegenüberlag. Von seiner Fahne einmal abgesehen hatte ich niemals damit gerechnet, dass er mich tatsächlich wahrnehmen konnte. Ein paarmal hatte er mich mit den Augen fixiert, doch ich schob es auf seinen Alkoholkonsum. Ein paar Tage darauf wurde auch er tot aufgefunden. Dort, wo er immer gesessen hatte. Man gab dem Alkohol die Schuld daran. Für ihn gab es in jener Nacht ein Sommergewitter, das erste seit vielen Jahrzehnten, das meine Trauer über jemanden ausgelöst hatte.