Biljana Fenzl
Abrechnung am Meer
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Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel
Nika rannte. Die Kondenswölkchen ihres Atems streiften ihre Wangen. Eisige Luft kroch ihren Hals hinunter. Sie hustete. Ihr linker Arm ruderte vorwärts. Die rechte Hand umklammerte krampfhaft den Riemen ihrer Tasche. Sie lief davon. Vor ihrer Arbeit, vor ihrem Leben. Vor sich selbst. Und endlich auf etwas Neues zu.
Den ganzen Weg zur S-Bahn rannte sie. Sie erwischte sie gerade noch rechtzeitig. Kaum war sie drin, glitten die Türen hinter ihr zu. Die Bahn fuhr an. Nika ließ sich auf den Sitz am Fenster plumpsen und warf ihren Rucksack auf den freien Platz neben sich. Sie begann zu frösteln. Ihre Arme umschlangen den dünnen Körper. Sie mochte den Winter nicht und war froh, dass er nun ausklang und die Temperaturen langsam stiegen. Kälte und Dunkelheit setzten ihr zu, machten sie schwermütig.
Der Zug beschleunigte. Häuser und Landschaften zogen an ihr vorbei. Die Bilder verschwammen vor ihren Augen. Sie dachte an ihre Eltern.
Sie würden von ihrem Entschluss nichts erfahren. Wie sie schon seit langer Zeit nichts mehr von ihr erfuhren.
Endlich besann sie sich auf ihren Lebenstraum. Sie nahm sich fest vor, es diesmal durchzuziehen. Das Auswandererkind würde es schaffen. Sie war stark, auch wenn ihre zierliche Gestalt das Gegenteil vermuten ließ. Sie hatte in ihrer Kindheit gelernt, für sich einzustehen.
Die S-Bahn hielt. Nika löste sich vom Sitz, schnappte ihren Rucksack und verließ den Zug. Sie rannte nach Hause. Ihre gefütterten, schwarzen Chucks berührten kaum den Boden. Sie riss die Haustür auf. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, hüpfte sie in den zweiten Stock. Den Schlüssel hatte sie irgendwo zwischen zwei Etagen bereits herausgekramt. Flink schloss sie ihre Wohnungstür auf und schmiss sie hinter sich zu. Die Tasche flog in eine Ecke, die Jacke an die Garderobe, wo sie mit der Kapuze an einem Haken hängen blieb.
Sie musste Großmutter anrufen. Ihre Oma war der einzige Mensch, dem Nika vertraute. Sie würde sich für ihre Enkelin freuen. Endlich war Nika auf einem guten Weg. Als sie die Telefonnummer in die Tastatur tippte, wippte Nikas linkes Bein aufgeregt auf und ab. Sie horchte auf das Tuten in der Leitung.
„Ja?“
„Omaichbin’sNika. IchhabtolleNeuigkeiten.“
„Nika? Nicht so schnell. Ich verstehe ja kein Wort.“
„Oma, hör mal, ich gehe weg vom Fernsehen.“
„Du hast gekündigt?“
„Nein.“ Sie druckste herum. „Aber ich werde noch.“
„Ach, Kind. Was ist das jetzt wieder?“
„Was meinst du?“
„Nika, wann kommst du endlich zur Ruhe?“
Nika schwieg. Jetzt wippten beide Beine synchron. Sie umklammerte den Hörer fester und presste die Kiefer aufeinander. Dann sog sie scharf Luft durch die Nase, bevor sie antwortete.
„Ich bin die Ruhe selbst, Oma.“
„Wie du meinst.“
„Ich verstehe das nicht, Oma. Du hast doch immer gesagt, ich soll meinen Weg gehen“, platzte es aus ihr heraus.
„Aber du tust es nicht.“
Nika war genervt. Schlug Oma jetzt in die gleiche Kerbe wie ihre Eltern?
„Das wollte ich dir doch gerade erzählen. Ich kündige beim Fernsehen und suche mir einen guten Job bei einer großen Tageszeitung.“
„Aber du hast noch keinen?“
Ihre Kiefer schmerzten bereits und ihre Zähne gaben knirschende Geräusche von sich.
„Nein. Es wird sich schon irgendetwas finden.“
„Ach Kind, warum gibst du dich immer nur mit irgendetwas zufrieden? Nimm dein Leben endlich in die Hand.“
„Ich habe mein Leben völlig unter Kontrolle.“
Es trat eine unangenehme Stille ein. Nika schluckte Wut und Tränen herunter. Sie hoffte, ihre Großmutter würde einlenken. Vergeblich.
„Nika, du bist jetzt dreißig. Du hast lange genug deinen Welpenschutz genossen. Möchtest du nicht mit deinen Eltern reden, ob …“
„Oma!“, schrie sie auf. Ihr Herz hämmerte hart gegen die Brust. Sie zitterte, lief im Zimmer herum, setzte sich und sprang gleich wieder auf.
„Schon gut“, beschwichtigte Oma sie. „Das war wohl keine gute Idee. Aber es gibt da noch eine andere Möglichkeit. Eine alte Freundin von mir hat auf einer kleinen kroatischen Insel ein Apartmenthaus. Sie könnte deine Hilfe gut gebrauchen. Und du könntest dort in Ruhe überlegen, wie es für dich weitergehen soll. Was hältst du davon?“
„Ich wollte nie den Traum meiner Eltern leben. Ich will auch nicht in die Tourismusbranche. Ich brauche auch keine Pause. Damit vertrödele ich nur Zeit. Ich weiß doch, was ich will. Ich will investigativen Journalismus machen!“
„Aber du bewegst dich seit Jahren nicht von der Stelle. Nika, bitte, geh nach Kroatien. Ich will dir doch nur helfen. Ich mache mir