Vorbemerkung
Wie nächste Verwandte und beste Freunde lieben, darüber wissen wir so gut wie nichts. Darüber reden wir nicht. Und wenn doch, dann nur ganz allgemein. Wer hat eine Vorstellung davon, ob seine Eltern lustvoll miteinander umgehen oder nur eheliche Pflichten zum Zwecke der Fortpflanzung erfüllten? Die Nachkommen wissen irgendwann, dass es nicht der Klapperstorch war, der sie in die Welt gesetzt hat. Die meisten von uns erfahren jedoch nie, ob ihrem Ursprung ein Orgasmus vorausging. Denn darüber spricht man nicht, und nicht selten möchten sich die Kinder überhaupt kein Bild davon machen, was Vater und Mutter so treiben. Im Bett. Außer zu schlafen.
Gelegentlich fällt in der Familie oder im Freundeskreis ein Halbsatz, der Vermutungen auslöst. Doch wer weiß schon, wie ein anderes Paar miteinander intim ist. Wer will sich vorstellen, wie Bekannte ihre Lust leben? Auf der häuslichen Couch? Oder auf den abgezogenen Dielen? Auf dem Tisch, wie uns das Fernsehen einredet?
Auch davon, wie unsere Kinder lieben, haben wir im allgemeinen keine Ahnung, obwohl wir es doch waren, die irgendwann ein Aufklärungsgespräch planten, vielleicht sogar begannen. Und froh waren, als der Nachwuchs wissend abgewinkt hat. Eventuell ließen wir dann ein uns passend erscheinendes Buch ganz nebenbei auf dem Nachttisch liegen.
Wie alle Alten vor uns stellen auch wir jetzt fest, dass sich die Zeiten geändert haben und sich rasend schnell weiter ändern. Bei unseren Kindern geht es heutzutage weniger darum, eine unerwünschte Schwangerschaft zu verhindern, als vielmehr darum, eine gewünschte zu befördern. Zwar stehen ihnen mehr Möglichkeiten als früher zur Verfügung, medizinisch nachzuhelfen, das bedeutet allerdings auch mehr Möglichkeiten, sich zu quälen bei dem Akt, der Lust und Freude bringen sollte. Da wird rein wissenschaftlich der günstigste Zeitpunkt errechnet, um dem Eisprung beste Chancen zu geben. Das Vergnügen schwindet, wenn Sex zur zielgerichteten Pflicht wird.
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Als die Tochter eines Tages gestand: „Ich glaube, ich hatte noch nie einen Orgasmus“, erschrak die Mutter und fragte sich, ob sie bei der Aufklärung, etwas versäumt habe.
Die 35-jährige Tochter war Mutter von zwei Kindern und seit einem Jahrzehnt verheiratet. Auch ihr Vater sah erschrocken aus, als seine Frau von dem Gespräch berichtete. Das arme Kind, meinte er und urteilte nach kurzem Überlegen, dass der Mann Schuld sei, wenn die Frau nicht zum Höhepunkt finde. Ganz unschuldig sind die Frauen aber auch nicht, meinte die Gattin. „Nach meiner Ansicht“, hielt er dagegen, „ist der Mann ist für die Lust der Frau zuständig“.
Die Mutter grübelte: Hätte sie mehr Intimes ausplaudern sollen? Hatte sie das Thema, wie so viele Eltern, der Schule, den Büchern und anderem Informationsmaterial überlassen? Hatte sich die Tochter nicht stets unangenehm berührt gezeigt und sogar abgeblockt, wenn die Mutter versuchte, mit ihr über Intimes zu reden? Anscheinend haben Eltern asexuelle Persönlichkeiten zu sein.
Ihr Mann habe sie seit der Geburt des Sohnes vor fünf Jahren nicht mehr angerührt, berichtete eine andere Tochter einer anderen Mutter. Er habe das mit seiner Anwesenheit bei der Geburt begründet. Da sei etwas in ihm zerstört worden. Er könne das nicht erklären. Es sei einfach so. „Aber du warst doch auch zuvor schon bei der Geburt unserer Tochter dabei,“ wunderte sich die Frau.
Die Ehe geriet aus den Fugen. Die Tochter sagte, sie sei nicht bereit gewesen, einen Orgasmus vorzutäuschen.
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Wenn man aus Statistiken erfährt, wie viele Frauen keinen Orgasmus erleben, fragt man sich, wie es um die weibliche Sexualität bestellt ist im Alltag, durch die Jahrzehnte des Älter- und Altwerdens hindurch.
Jedenfalls habe ich mich das gefragt.
Ich habe Frauen gesucht, die mir vertrauten, weil wir uns seit Jahren kennen. Ja zu meinem Ansinnen haben demnach nur Frauen aus dem Freundeskreis gesagt. Nur einige, sie sind nicht repräsentativ. Es wurde eine ganz persönliche Angelegenheit, Ich habe gefragt, und sie erzählten. Alle waren um die 70 Jahre alt, als wir uns zu mehreren Einzelgesprächen trafen, nur eine von ihnen war ein gutes Jahrzehnt jünger. Wir gehören zur selben Generation.
Manche Details ihres Lebens habe ich einer möglichen Identifizierung entzogen, und doch entsprechen die Lebensläufe der Wirklichkeit, nichts ist erfunden, was das Liebesleben und die persönlichen Erfahrungen ausmacht.
Hannelore Kleinschmid
Ein dickes Portemonnaie
Ein dickes Portemonnaie
BETTY
Ich war ein verträumtes Kind. Wurde mein Name gerufen, musste ich mich erst aus meiner Traumwelt herausfinden, und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, worum es gerade ging. Für die Familie war ich die „Transuse“, ein Schimpfwort, kein Lob, doch ich wehrte mich nicht. Ich galt als ruhiges, freundliches Mädchen, aber eben auch als ein bisschen langsam im Gegensatz zu meinem jüngeren Bruder, der für alle das „pfiffige Kerlchen“ war, obwohl er nervte.
Meine Erinnerungen an die Kindheit beginnen zur Zeit des Kriegsendes. In unserer kleinen Stadt waren viele Häuser zerstört. Wir Kinder fürchteten uns vor den Ruinen und flüsterten von den Toten in den Kellerlöchern. Wenn meine Mutter zur Arbeit ging, waren wir nachmittags bei den Großeltern oder auch allein zu Hause. Allein zu sein, genoss ich sehr, obwohl es oft Streit mit meinem Bruder Torsten gab. Er konnte nicht leben, ohne das letzte Wort zu haben, bei Erwachsenen und erst recht bei mir.
Ich genoss es, durch die Wohnung zu bummeln, öffnete Schubladen und Schrankfächer, besah mir den Inhalt, nahm Bücher aus dem Schrank und betrachtete die Bilder. Vieles begriff ich noch nicht, aber das war meine Welt. Später fing ich an, wahllos zu lesen, was mir in die Hände kam, egal ob ich den Inhalt verstand oder nicht.
Dass ich als Mädchen Kleider trug und anders aussah als die Jungen, hat mich nicht weiter interessiert. Mit meinem Bruder habe ich mich nie verglichen und nur ausnahmsweise mal gespielt. Von den Doktorspielen, zu denen sich einige Nachbarskinder geheimnisvoll in eine offene Garage im Hof zurückzogen, schloss man mich als Älteste aus, doch das war mir egal. Ich war gern für mich allein.
Dieter Nuhr, der Kabarettist, hat einmal gesagt, in der Schulzeit und davor sei er ganz entspannt wie eine Qualle in der Welt herumgesegelt, völlig ohne Absicht und Ziel. Das hat mir gefallen. So sehe ich mich als Kind.
Den Moment, in dem mir mein Körper zum ersten Mal ein erotisches Signal gegeben hat, erinnere ich genau. Ich habe immer gern, schnell und viel gelesen. Und beim Lesen im Roman „Clochemerle“, den ich mir heimlich aus dem Schrank genommen hatte, kribbelte es plötzlich in meinem Bauch. Das war ein schönes Gefühl, wie ich es noch nie erlebt hatte.
„Clochemerle“ wurde mein Buch! Erst vor kurzem entdeckte ich es auf einem Flohmarkt, blätterte darin und suchte schließlich die Schlüsselstelle, oder genauer eine Schlüsselstelle:
„Sie näherte sich dem Bett, auf dem der arme Kranke, von halb fiebrigen Träumereien angestachelt, seine Kräfte zurückkehren spürte. Die Erscheinung seiner Wirtin mit dem Gurgeltrank gegen die Angina gab diesen Träumen einen so willkommen konkreten Inhalt, daß er mit der Miene eines launisch kranken Kindes, das verzogen werden möchte, ihre Schenkel umschlang, die breit und fest waren und sich gut anfassen ließen. Eine Welle beruhigenden Wohlgefühls durchströmte Adeles Körper, als ob, nachdem das Gewitter endlich ausgebrochen war, große Regentropfen ihre glühende Haut erfrischten. … Er nutzte die Behinderung seiner Wirtin durch das Tablett, das sie immer noch hielt, dahingehend aus, daß er sich weitere Vorteile verschaffte, indem er sich in einer Weise aufdeckte, die jede Beteuerung erübrigte. Adele gab als gute Geschäftsfrau, die den Wert der Zeit zu schätzen weiß, sanft nach … „
Mehr war da nicht!
Beim erneuten Lesen nach mehr als einem halben Jahrhundert erkannte ich, dass diese simplen Zeilen mich als Teenager berührten und zum ersten Onanieren verführten. Das kann ich heute noch nachempfinden.
Warum es so angenehm geprickelt hat, wollte ich nach dem ersten Lesen sofort erforschen. Ich war allein zu Hause und suchte mir einen Handspiegel. Dann habe ich – ganz ohne Anleitung