Zu dumm zum Beten. Heiko Rosner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heiko Rosner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738037302
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abgebrochenen Eisberg in der Antarktis und einem Aufruf der Gewerkschaften für den Erhalt der Achtstundenwoche. Da war Siebzehn schlagartig hellwach.

      Acht Stunden! An jedem Tag? Waren die wahnsinnig?

      Arbeit.

      Mit Arbeit hatte Siebzehn ganz schlechte Erfahrungen gemacht. Schon als Jugendlicher hätte er lieber ein Praktikum bei der Baader-Meinhof-Gruppe absolviert, als sich von den Bütteln des Arbeitsamts beschwatzen zu lassen. Was wollen sie später denn mal werden? Wo sehen Sie Ihre persönlichen Qualifikationen? Terrorist, hatte er gesagt. Das kam damals nicht so gut an. Es war die Zeit, als sie in Berlin den Bürgermeister in eine Kiste verpackten und in den Apotheken geifernde Rentner unansehliche Schwarzweissfotos durchstrichen. Womit dieser Berufsweg praktisch verbaut war. Abgesehen davon hätte er nicht gewusst, welche Personalstelle der RAF für seine Bewerbung zuständig gewesen wäre. Als nächstes zog er das freie Unternehmertum in Erwägung, aber Bankräuber wurden ihm zu oft erschossen und als Einbrecher war man nie sicher vor schlafenden Omas oder bellenden Pekinesen. Gegen seinen Willen geriet er später trotzdem auf die schiefe Bahn und nahm einen von diesen Scheißjobs an. Ein Elend.

      Arbeit war vergeudete Zeit. Niemand brauchte sie, niemand wollte sie. Er selbst war mehrere Jahre in diesem Hamsterrad mitgelaufen und die schweren traumatischen Schäden bezahlte ihm keiner. Schon das frühe Aufstehen machte ihn krank. Dazu diese unsensible Hetze. Aber auf Einzelschicksale oder wissenschaftliche Forschungsergebnisse nahm in diesem Sklaventreiberstaat keiner Rücksicht. Wo doch längst erwiesen war, dass der Fleißige sich nur kopflos in seine Arbeit stürzt und Faulenzer vorher viel länger über ihre Aufgaben nachdenken, was letztlich für viel mehr Wachstum sorgt. „Fortschritt kommt nicht durch Frühaufsteher“, lautete eine Erkenntnis des Schriftstellers und Menschenkenners Robert Heinlein, „Fortschritt entsteht, wenn faule Männer nach einfacheren Wegen suchen, etwas zu tun.“ Diesem Konzept fühlte sich Siebzehn zutiefst verpflichtet, gerade in Zeiten konjunktureller Krisen und struktureller Herausforderungen. Ein Elefant trank auch nicht jeden Tümpel auf einmal leer, der hob sich immer einen Schluck für später auf.

      Wenn man diese Elefantenregel auf die Arbeitswelt übertrug, bedeutete das: Zeigen, dass man sich für die Arbeit grundsätzlich interessiert, von ihrer Ausführung zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber lieber absehen möchte, aus gesundheitlichen Gründen. Siebzehn war pracktisch der Erfinder des Burnout. Obwohl es das Wort damals noch gar nicht gab. Aber die Symptome – Schwindel, Laktoseüberempfindlichkeit, Schlafmangel – kannte er lange bevor ausgelaugte Professorinnen dicke Bücher über ihre Erschöpfung schrieben. Er selbst zog sich in seinen semiaktiven Jahren mehrere Splitterbrüche an der rechten Hand und eine eingedellte Nase zu – weil er morgens in der S-Bahn logischerweise erweise nicht ausgeschlafen war und beim Bremsen auf die Schnauze fiel.

      Schädel hatte ihm damals den Mist eingebrockt: einen Job in der Poststelle bei Axel Cäsar. Das reinste Grauen. Schon wenn er morgens diesen Phallus von Verlagshaus sah, kam es ihm hoch. Er laß die Zeitung nicht, aber manchmal war er Ausfahrer, und dann schmiss er die Scheißpacken im Morgengrauen vor Teufelsbrück in die Elbe. Ersäuft Springer! Das fand er ein viel besseres Motto, als das von diesen alten Gammelstudenten.

      Trotzdem hatte Hubsi Marcuse schon recht: Wer arbeitete, war ein Mitläufer des kapitalistischen Systems und verdiente kein Mitleid. Oder war das nicht von Marcuse? Egal, irgendwer hatte das jedenfalls gesagt, und in Frankreich packten gekündigte Schwermetaller Bomben aufs Fabrikdach gegen ihre Erschöpfungsdepressionen und den Arbeitsterror der Manager. Die Frogs waren in der Beziehung schon immer weiter gewesen als die Deutschen.

      Wer arbeitet, stirbt früher: Diese Warnung müsste groß und deutlich, schwarz eingerahmt, vor allen Firmentoren stehen. Damit die jungen Leute erst gar nicht auf dumme Gedanken kamen. Schon die hellenische Gesellschaft hat körperliche Arbeit verachtet. Und die waren schließlich die Erfinder der Demokratie. Im Japanischen gibt es sogar ein Wort für den Tod durch Arbeit: Karoshi. Das wusste Siebzehn von einem Stammkunden aus Fukushimahausen, der mittlerweile an einem Schlaganfall verschieden war. Als ob sich dafür der ganze Sushi lohnte.

      Wie stand schon im Bauernkalender geschrieben: Kühe machen viel Mühe.

      Doch natürlich half es nichts, dem Wahn des Arbeitsterrors offen den Kampf anzusagen. Man musste taktisch vorgehen, der Rationalität der Bürozeiten das Primat der Trägheit entgegensetzen, den Feind mit unerwarteten Reaktionen irritieren und Verwirrung stiften. Als gelehriger Schüler von Hubsi Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft und Jack Rosevelts Kampf gegen den digitalen Terror hatte er es in diesem Guerillakampf zu einiger Profession gebracht. Er kannte beispielsweise einige Knöpfe, die sich gar nicht gut mit der Funktionsweise der elektronischen Datenverarbeitung vertrugen, und wenn er Wochenenddienst hatte, pflanzte er Trojaner, die montags zur Mittagskonferenz unentkoppelbar auf einen thailändischen Porno-Tourismus-Service umschaltete.

      Dennoch: Es blieb ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Alles nur für einen Gehaltsstreifen mit Steuerabzug und einen Aldi-Schokaladennikolaus am 6. Dezember. Der Tag fing erst richtig an, wenn es auf fünf ging und die sinnlosen acht Stunden vorbei waren. Warum steckte man Leute, die nichts verbrochen hatten, fünf Mal die Woche in ein Gefängnis? Wer war so krank, Arbeit als ein Privileg und nicht als sittliche Belästigung zu empfinden? Was war so toll daran, an jedem verdammten Murmeltiertag um fünf oder um sechs Uhr aufzustehen? Und woher zum Teufel kamen die Unmengen von Kakerlaken, die durch die Heizungsschlitze in der Chefetage krabbelten und dort für beträchtliches Aufsehnen sorgten, wie dem anschwellenden Sekretärinnengekreische aus den oberen Stockwerken zu entnehmen war?

      Das alles waren Fragen, die ihn beschäftigten, als er seine Kündigung unterschrieb. Mit einer einzigen Handbewegung räumte er seinen Schreibtisch auf. Durch den neunten Stock, in dem die Ölköpfe saßen, zogen Schwaden von Senfgas. Das machte die Kakerlaken noch mehr verrückt. Die Server des Verlags waren deutschlandweit blockiert, bis auf das Live-Geficke aus Thailand. Als Siebzehn ging, stöhnte es aus allen Stockwerken. Was für ein widerwärtiger Sauladen.

      Das alles war drei Jahre her. Seitdem hatte er ein günstigeres Einkommen gefunden, mit mehr Freizeit und einem viel besseren Lohn-Leistungs-Verhältnis. Offiziell war er natürlich arbeitslos. Das brachte ein paar Kröten mehr ein. Obwohl er auf die längst nicht mehr angewiesen war. Aber als Befürworter des Sozialstaats hielt er sich eisern an die Regeln und sicherte damit den Erhalt wichiger Jobs im Arbeitsamt. Tief in seinem Herzen war er ein guter Mensch. Wenn man ihn nur ausschlafen ließ.

      Was an diesem Morgen dank der Einmischung der Frühaufsteher so ganz und gar nicht funktioniert hatte. Aber der Frühstücks-Whiskey stimmte ihn versöhnlich und so glitt er langsam und am Ende beschwerdenfrei in einen neuen Tag, der ihn mit zwitscherten Vögeln, einem strahlend blauen Himmel, einem röhrenden Helikopter und einem stechenden Brandgeruch empfing. Der ihn langsam etwas irritierte. Er schnupperte. Das roch eindeutig nicht nach Hafengeburtstag oder den Müllbeuteln aus der Eulen-Klause nebenan. Anscheinend brannte es wirklich. Der Gedanke kam in seinem Kopf an wie ein Zug mit sechsstündiger Verspätung. Feuer? Wo?

      Siebzehn erhob sich und schlappte durch den Flur, ohne über die Staubflusen auf dem abgewetzten Teppichboden zu stolpern, dessen beiger Grundton mit den dunklen Brandlöchern vergangener Wacker-Verköstigungen harmonierte. Bei Gelegenheit sollte er vielleicht einmal klar Schiff machen. Vorausgesetzt, er fand die Zeit dazu. Seit er nicht mehr arbeitete, war er ein vielbeschäftigter Mann. Aufräumen konnte er höchstens am Wochenende, aber da musste er sich ausruhen, denn als Alleinunternehmer schenkte ihm keiner was. Und Frauen, die sich über Krümel oder alte Socken im Bett aufregten, flogen bei ihm sowieso raus. So what?

      Er stieß die Tür zum Wohnschlafzimmer auf, so heftig, dass der neurotische Luistrenker in seinen Laken aufschreckte und wütend fauchte. Luistrenker war ihm vor einem Jahr zugelaufen oder besser zugeflogen. Er saß damals auf einer Parkbank am Balkon von Altona und wartete auf einen Kunden, der sich verspätete. Plötzlich ratschte es über ihm in den Ästen und ein haariges, dunkles Etwas fiel ihm vor die Füße. Erst dachte Siebzehn, ein dicker Vogel wäre abgestürzt, aber dann sah er, dass es eine dicke Katze war. Das Tier hatte sich bei dem Sturz verletzt und zog die rechte Vorderpfote nach. Jeder freilaufende Mistköter, und davon gab es im Jenischpark jede Menge, hätte das bemitleidenswerte Geschöpf