Zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Hans Müncheberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Müncheberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847689867
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machst du denn am liebsten?“ wollte sie nun wissen.

      „Stulle!“ Diese Antwort kam sofort. Er hatte offenbar statt -machst du‚ magst du- verstanden. Die Esslust, die aus seiner Antwort abzulesen war, ließ die Erwachsenen einen verständnisvollen Blick wechseln. Dann mussten sie über ihre Reaktion lächeln.

      „Hast du Freunde ..., hier im Heim?“ fragte Helga, als er wieder still zwischen ihnen voranschritt.

      Er schien nachzudenken. Dann hob er die Schultern: „Weeß nich ... “

      In dem Stadtpark sahen sie sich den Düsenjäger an. Georg versuchte, das Interesse des Jungen zu wecken, aber er wusste nichts über Flugzeuge, kaum etwas über Autos, nichts von Eisenbahnen und Schiffen. Die Fragen schienen ihn zu ermüden.

      Georg konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Er blickte Helga an und schüttelte ablehnend den Kopf.

      Ihr tat der Junge leid. Es musste doch nicht seine Schuld sein, wenn er im Wissen so zurückgeblieben war. In einem mütterlichen Impuls fragte sie schließlich: „Wie wär’s mit einem Schokoladeneis?“

      Sofort hellte sich das verschlossene Kindergesicht auf. Der Junge nickte heftig und griff wieder nach ihrer Hand. Er wusste zwar nicht, wo es eine Eisdiele gab, aber er zeigte dahin, wo man hohe Häuser sehen konnte.

      Sie mussten nicht lange suchen. Der Junge strahlte, als man ihm einen Eisbecher und einen kleinen Löffel reichte. Sobald sie zu dritt einen geeigneten Platz gefunden hatten, war er mit allen Sinnen auf den für ihn offenbar seltenen Genuss konzentriert.

      Helga flüsterte ihrem Mann zu: „Siehst du, man muss nur den Schlüssel finden ... “

      Auf dem Rückweg kam ihnen eine in Zweierreihe laufende Gruppe von Heimkindern entgegen. Sowie der Junge sie entdeckt hatte, hob er stolz den Kopf, auch der Griff seiner Hände wurde fester.

      Als die Kinder an ihnen vorbei waren, hörten sie, wie eines der Kinder sagte: „Nun hat der Thorsten auch eine neue Mutti und einen neuen Vati!“

      Die Heimleiterin stand bereits auf dem kleinen Podest vor der Eingangstür. Als Bergers mit dem Jungen zu ihr hinaufstiegen, beugte sie sich etwas vor und fragte den Jungen: „Na? Wie war’s?“

      „Schööön ...!“ Es war ein freudiges Stöhnen. Er nickte heftig und blickte dankbar zu Helga auf.

      „Gut, gut ... du kannst jetzt wieder auf den Hof gehen.“

      Der Knabe machte einige Schritte ins Haus hinein, dann dreht er sich schnell um und schaute das Ehepaar mit großen Augen an. „Kommta wieda?“

      Ohne sich mit ihrem Mann zu verständigen, nickte Helga Berger. „Vielleicht schon nächsten Sonntag.“

      Der Junge atmete erleichtert auf und schlenderte den Gang entlang zur Hofterrasse.

      „Ihre Zusage freut mich“, sagte die Heimleiterin nun. „Sie wurden uns ja vom Referat Jugendhilfe Ihres Stadtbezirks nachdrücklich empfohlen. Falls Sie jetzt noch Fragen haben ...?“ Sie wies einladend ins Innere des Hauses.

      „Sehen Sie unsere Zusage dem Jungen gegenüber bitte nicht als bindende Entscheidung an. Das Kind kann nichts dafür, dass Sie unseren dringlichen Wunsch einer ersten unverbindlichen Beobachtung durchkreuzt haben.“ Helga Berger war nicht bereit, einen erlittenen Wortbruch leichthin abzutun. Sie sprach nicht laut, aber mit allem Nachdruck.

      „Ach, wissen Sie,“ meinte die Heimleiterin leichthin, „nach unseren Erfahrungen kann das bloße Zuschauen leicht zu falschen Schlüssen führen. Da ist ein direkter Kontakt viel aussagekräftiger.“

      „Nichts gegen Ihre Erfahrungen, aber bitte auch nichts gegen unsere Überlegungen.“ Helgas Stimme hatte eine Schärfe erreicht, die Georg alarmierte.

      „Wir haben noch Fragen zu diesem Knaben,“ warf er rasch ein. „Er scheint uns in seinem altersgemäßen Wissen und im Spektrum seiner Interessen sehr begrenzt zu sein.“

      „Ach, wissen Sie,“ die Heimleiterin breitete ihr Hände zu einer allumfassenden Bewegung aus, „man kann den Entwicklungsstand von Kindern, die aus belasteten Elternhäusern herausgenommen werden mussten, nicht mit dem eines Gleichaltrigen aus einem ...,“ nun mokant betonend, „Intelligenzler-Haushalt vergleichen.“

      Helga mochte nicht auf diese unterschwellige Anspielung eingehen. Sie spürte, dass sich Georg nicht mehr lange zurückhalten konnte und fragte knapp und sachlich: „Was hätten Sie zu Thorsten Jäger noch für Hinweise?“

      „Nur soviel,“ kam es aus leicht verkniffenem Mund, „der Junge ist völlig gesund und für seine bisherigen Verhältnisse normal entwickelt.“

      Schweigend liefen sie zu ihrem Auto, blieben unschlüssig neben ihm stehen. Nein, sie konnten nicht einfach davonfahren. Georg wusste, in bestimmten Situationen brauchte Helga einen guten Kaffee, wenigstens einen Espresso.

      In dem Eiscafé, in dem sie mit dem Jungen gesessen hatten, fanden sie ein abseits stehendes Tischchen und konnten ihrem Ärger über das einseitige, offenbar zielgerichtete Vorgehen der Heimleiterin Luft machen. Für Helga war es aber wichtig, ihre Haltung dem Knaben gegenüber nicht davon abhängig zu machen. Der kleine Kerl hatte sich derart über ihr Erscheinen, über den Spaziergang und dort an dem Tisch über das Schokoladeneis gefreut, dass all seine aufgeflammten Hoffnungen in der berlinisch gefärbten Frage „Kommta wieda?“ gebündelt waren.

      „Die großen Augen, die er dabei gemacht hat ..., was meinst du, sollen wir es noch einmal mit ihm versuchen?“ Helga blickte ihren Mann fragend an.

      „Wenn Malte und er miteinander können – ja.“

      „So machen wir es.“ Sie nickte mit einem wehmütigen Lächeln.

      Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, die sie so mutig der Heimleiterin geboten hatte.

      Wieder in Berlin wurden sie erst von Maltes Großmutter nach ihren Eindrücken befragt. Den Wortbruch durch die Heimleiterin fand auch sie unfair. Dadurch erfuhr der gespannt lauschende Malte endlich, wohin seine Eltern gefahren waren. In ihre Überlegungen, einen Weggefährten für ihn zu finden, fühlte er sich sofort einbezogen. Für ihn ging es um einen festen Spielgefährten und so erklärte er großspurig: „Beim nächsten Mal, in dem Heim dort, wenn ich endlich dabei bin, dann krieg ich schon raus, ob der zu uns passt.“

      „Recht hat er“, meinte Helga, „schließlich ist er es, der sich die nächsten Jahre mit diesem Thorsten verstehen müsste.“

      Auch am zweiten Julisonntag lagen Berlin und die Straße nach Bad Freienwalde unter einem blauen Sommerhimmel, an dem die typischen Schönwetterwolken schwebten. Malte hatte sich seiner Teilnahme an dieser Fahrt wiederholt mit einer Mischung aus Neugier und Abwehr vergewissert. Nun thronte er hinter den Eltern im Auto und beobachtete durch die weite Öffnung des Schiebedachs die Wolken, die ihm wie kleine Plastiken erschienen. Auch die Erwachsenen sollten entdecken, dass die eine wie ein Elefant aussah, eine andere wie ein Igel. Am meisten hatten sie über eine Lokomotive zu staunen.

      Als sie die lange Straße hinab ins weite Flusstal rollten und sich dem Kinderheim näherten, verstummte Malte. Nun zeigte sich, unter welcher Anspannung auch er stand. Da sie nicht unmittelbar vor dem Heim parken wollten, hatten sie mit Malte verabredet, dass der Vater den fremden Jungen allein abholen würde und dann mit ihm zum Auto käme. Außerdem mochte Helga nicht erneut auf die Heimleiterin treffen.

      Das Heimkind Thorsten stutzte, als es Georg allein auf der Hofterrasse sah. „Wo is’n die Frau?“

      „Sie ist auch da“, beruhigte der ihn. „Sie wartet im Auto auf dich ... und nicht nur sie allein. – Guten Tag erst mal.“ Er reichte ihm die Hand.

      „Tach“, sagte er, ergriff Georgs Hand und ließ sie nicht wieder los. Unsicher blickte er sich zu der Erzieherin um, die von der Heimleiterin bei jenem ersten Besuch mit 'Frau Schultes' angesprochen worden war. Als sie nickte, wandte sich Thorsten um und zog Georg mit erstaunlicher Kraft in Richtung Straße.

      Sowie