VOM ANFANG UND ENDE DES SOMMERS. Silke Riemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Silke Riemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738054514
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ehe er sie genauer in Augenschein nehmen kann, ist sie um die Ecke verschwunden.

      Als er in die Sauna kommt, sitzt dort ein Fremder, der ihm auf Anhieb unsympathisch ist: „fetter Schnösel mit Milchreis-Bubi-Gesicht“ – so tauft ihn Hans sofort. Außerdem hat er Hans´ Platz auf der obersten Bank ganz rechts belegt. Na gut, das kann er vielleicht nicht wissen, denkt Hans, aber dass man seine Badelatschen vor dem Saunaraum abstellt, hätte er wissen müssen. Missmutig dreht er die Sanduhr um und legt sich auf die linke Bank.

      Während ihm sein Schweißtropfen ins Ohr rinnt, stöhnt der Mann wohlig-zufrieden: „Endlich alles ausschwitzen, nach so einem Tag!“

      Hans knurrt nur etwas Unverständliches. Er will sich von dem Fremden kein Gespräch aufdrängeln lassen.

      „Müde?“, fragt der schließlich. Immerhin hat er Anstand, denkt Hans und nickt. Dann sagt er sogar: „Nach so ´ner Schicht auf der 256er Strecke bist du fix und foxi.“

      „Sie sind also bei der BVG?“, fragt der Fremde interessiert.

      „Seit vierundvierzig Jahren“, erklärt Hans, nicht ohne Stolz, und setzt sich auf. „Aber überall diese… Einsparungen! Wenn ich das schon höre! Am liebsten wären denen Busse ohne Fahrer und selbstfahrende Trams, U- und S-Bahnen.“

      „Nun ja“, sagt der Fremde. „So ein Unternehmen wie die BVG muss sich verschlanken, muss effektiver werden, gerade jetzt – in Zeiten der Krise…“

      „Finanzkrise! Papperlapapp“, unterbricht ihn Hans. „Was wissen Sie denn, Sie Grünschnabel? Neulich gab´s bei der S-Bahn einen Unfall wegen gerissene Radreifen und einen anderen wegen angeknackte Achsen. Die haben in den Werkstätten die Zahl der Mitarbeiter um fast die Hälfte gesenkt. Alles für die Börse, aber nicht mehr für die Fahrgäste. Da muss man nicht die hellste Kerze auf der Torte sein um vorauszusagen, was das für den Zustand der Busse bedeutet.“

      Der Fremde, der höchstens dreißig Jahre alt, aber mindestens neunzig Kilo schwer ist, setzt sich auf und zieht die Stirn in Falten. Er scheint zu ahnen, dass diese Schimpftirade nicht so bald enden wird.

      „Aber nicht mit mir, nicht mit Hans Unger! Ich kontrolliere immer persönlich vor Schichtantritt mein Fahrzeug. Und wenn was nicht in Ordnung ist, steige ich nicht ein, basta! Immerhin geht es um die Sicherheit meiner Fahrgäste. Und nicht nur um die, sondern auch um die anderen Verkehrsteilnehmer. Das ist eine Frage der Ehre. Busfahrerehre.“ Nach einer kurzen Pause setzt er hinzu: „Die da oben würden mich gern in Rente schicken, abschieben, aber ich höre nicht auf, bevor ich fünfundsechzig bin, also übernächstes Jahr, 2012.“

      Der junge Mann will gerade rausgehen, aber als Frau Wolnik mit dem Aufgusseimer hereinkommt, setzt er sich noch mal hin, auf die untere Bank.

      „Weichei“, knurrt Hans. „Nur die Harten komm´ in´ Garten!“

      Pscht… Das Wasser verdampft auf den heißen Ofensteinen. Frau Wolnik verwirbelt die heiße Luft mit dem Handtuch. Nachdem sie Hans dreimal heiße Luft zugefächelt hat, fragt sie den Fremden höflich: „Und sie, Herr…?“

      „Neumann.“

      „Herr Neumann, wie oft darf ich…?“

      „Jeder drei Mal, nicht mehr und nicht weniger!“ Hans´ Stimme bekommt etwas Hartes. “Wenigstens hier herrscht noch Gerechtigkeit. Wem das nicht passt, der passt hier nicht hin.“

      Frau Wolnik lächelt Herrn Neumann entschuldigend an: „Wir freuen uns über jeden neuen Gast. Wir hoffen, Sie kommen jetzt öfter“, und fächelt ihm dreimal Luft zu.

      „Ich weiß noch nicht…“, sagt Herr Neumann. „Ich bin erst vor kurzem wieder hergezogen, ins Bötzow-Viertel.“

      „Dachgeschoss?“, mischt sich Hans ein.

      „Ja, wenn Sie gestatten, Herr…“

      „Unger, Hans Unger. Und woher kommen Sie, etwa aus Baden-Württemberg?“

      „Ich bin hier geboren und aufgewachsen“, antwortet Herr Neumann mit einem scharfen Unterton. „Oder haben Sie etwas dagegen?“

      Hans hebt die Hände und schüttelt den Kopf: „Nichts für ungut!“

      Herr Neumann wird wieder etwas moderater: „Meine letzte Station war Frankfurt.“

      „Frankfurt oder?“

      „Oder was?“

      „Er meint: Frankfurt am Main oder an der Oder“, erklärt Frau Wolnik.

      „Main natürlich“, stammelt er.

      „Wir freuen uns über jeden neuen Gast“, wiederholt Frau Wolnik, als hätte sie den Satz einstudiert, wirft das Handtuch über die Schulter, nimmt den Holzeimer und geht raus.

      „Danke“, ruft Hans ihr nach und legt sich wieder hin.

      Als Herr Neumann umständlich seine Badelatschen anzieht, kann sich Hans ein „Die gehören eigentlich vor die Tür“ nicht verkneifen.

      „Zu Befehl, Herr Feldwebel.“

      Hat der eben „Feldwebel“ gesagt?, fragt sich Hans und spürt, wie ihm das Blut zu Kopfe steigt – nicht vor Hitze, sondern vor Ärger. Um sich zu beruhigen, summt er: „Rote Lippen …“ Dabei lässt er den Fremden nicht aus den Augen. Durch das kleine Fenster in der Tür kontrolliert er, ob er sich ordentlich abduscht, bevor er ins Tauchbecken steigt. Falls nicht, würde Hans Alarm schlagen. „Von wegen ´Feldwebel´. Man wird doch noch was sagen dürfen!“, schimpft er vor sich hin.

      Aber der Mann benutzt das Tauchbecken gar nicht, sondern nur die Schwalldusche. „Weichei.“ Hans legt sein Union Berlin-Handtuch auf seinen angestammten Platz, streckt sich darauf aus und genießt die Ruhe, endlich.

      Nachdem das letzte Sandkorn in den unteren Teil der Sanduhr gefallen ist, verlässt er den Saunaraum, duscht eiskalt und taucht dreimal im Becken unter – einmal kurz, zweimal so lange, wie er es aushält. Brrrr.

      Im Ruheraum liegt Herr Neumann und schläft. Sein Bademantel ist aus samt schimmerndem, edlem Stoff. Auf einmal kommt Hans sein eigener Bademantel schäbig vor: das Frottee ist an den Ellenbogen und am Gürtel bereits abgerieben. Doch da fällt ihm Babsis Spruch ein: „Wenn du anfängst, dich mit solchen Leuten zu vergleichen, hast du schon verloren“. Also tritt er selbstbewusst zum Fenster, öffnet es und atmet dreimal tief ein und aus, obwohl die Luft an diesem Junitag schwül und wenig erfrischend ist. Dann legt er sich hin, holt aus seiner Bademanteltasche den „Kurier“ und faltet die Zeitung lautstark auseinander.

      Keine zehn Sekunden vergehen, ehe er drauf los flucht: „Diese Bonzen! Die fahren eine Bank nach der anderen in die Pleite und bekommen noch Millionen dafür. Aber die kleinen Leute? Wenn unsereiner mal was verkehrt macht, kommt gleich die Polente, das Finanzamt und so weiter.“

      Herr Neumann schreckt hoch, steht kopfschüttelnd auf und verlässt wortlos den Raum. Bei seinen weiteren Saunagängen richtet es Hans so ein, dass er ihm nicht noch mal begegnet.

      Kurz vor sechs wird es voll. Eigentlich kennt Hans alle Saunagäste. Aber Frau Wolniks Mann hat er noch nie gesehen. Mit seinen dünnen Beinen in den Röhrenjeans und mit seinem Pferdeschwanz sieht er aus wie ein altgewordener Hippie. Er hat ein zweijähriges Kind auf dem Arm, das er seiner Frau mit den Worten „Es muss sein!“ übergibt.

      „Das geht nicht, Jack“, zischt sie. „Wenn das meine Chefin sieht… Kann denn nicht Charly auf ihn aufpassen?“

      „Der ist beim Kindergeburtstag“, entgegnet der Mann, und: „Wenn er schon mal eingeladen ist, wollen wir ihm das doch nicht verderben.“

      Sie nickt. „Übrigens, seine neue Lehrerin, diese Frau Beuge, will mit uns sprechen...“

      „Keine Zeit, Marie“, unterbricht er sie schroff. „Jetzt nicht. Muss einspringen für einen Leadgitarristen.“ Er ist schon an der Tür, als sie fragt: „Wird die Mucke wenigstens bezahlt, oder gibt´s wieder nur die Getränke gratis?“ Er antwortet nicht, sondern verschwindet ohne