VOM ANFANG UND ENDE DES SOMMERS. Silke Riemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Silke Riemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738054514
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Spraydose raus und hält sie Stefan hin: „Hier. Datt hilft.“

      Obwohl Stefan Angst hat zu ersticken, zögert er vor Ekel.

      „Nu mach schon! Hilft wirklich. Nehm ich schon seit zich Jahren.“

      Als Stefan den Namen des Medikaments liest, kommt ihm dieser irgendwie bekannt vor.

      „Los jetzt, Aldär, oder willste krepiern?“

      Sie drückt ihm mit der einen Hand den Zerstäuber zwischen die Lippen und mit der anderen seinen Kopf nach hinten, so dass er sich ihr nicht entziehen kann.

      „Erst ausatmen und… zack! Einatmen, und nochmaaal, einaatmen… Naa siehst du, geht doch.“

      Stefan spürt ein trockenes Pulver im Mund. Ehe er sich versieht, kippt das Mädchen Wasser aus ihrer Wodkaflasche hinterher. Er wundert sich, dass darin tatsächlich Wasser ist, lauwarmes Wasser. Zuerst will er sich übergeben oder zumindest ausspucken, doch dann merkt er, dass sich seine Atemwege tatsächlich weiten, und so beruhigt er sich allmählich. Als ihm das Mädchen und der dunkelhäutige Junge den rechten Schuh ausziehen, muss sich Stefan zusammenreißen, um nicht vor Schmerz aufzuschreien: „Könnt ihr haben. Echt Nike“, stöhnt er.

      Die beiden schauen ihn verwundert an: „Aldär, dein Fuß schwillt an. Sonst müssen die das nachher in der Klinik alles aufschneiden. Wär´ doch schade um die guden Schuhe“, sagt das Mädchen freundlich.

      Weil ihre Hand plötzlich rot von ihrem Blut wird, schiebt sie den Ärmel ihres Shirts hoch, um die Bisswunde mit einem Tuch, mit dem sie zuvor ihrem Hund das Maul abgewischt hat, abzudecken. Da sieht Stefan ihre Tätowierung an der Außenseite ihres Armes: erst „food“, dann „tsi“„ und schließlich „apaP“ – „Papa ist doof“.

      Er zeigt darauf: „Tut mir leid.“

      „Ach, tut goar nich weh. Wasch ich aus, dann ist gut. Geimpft isser ja wohl … gegen Tollwut und so, odär?“

      „Ich meinte nicht die Bisswunde... Obwohl mir die natürlich auch Leid tut… Brutus muss einen Schreck bekommen haben…Wollte mich verteidigen…“

      „Watt´n dann?“, fragt das Mädchen verständnislos.

      „Das mit Ihrem Vater.“ Stefan deutet auf ihre Tätowierung. Sie schaut ihn sonderbar an. Statt zu antworten, dreht sie die Musik lauter.

      Der schwarze Junge meint besorgt: „Tanni, das sollteste aber ´nem Medizinmann zeijen. Bevor sich da watt entzündet. Hier ist doch gleich ´n Krankenhaus. Da bring´ wir den juten Mann doch eh dahin.“

      „Nee, nee, lass mal, finde gerade meine Krankenversicherungskarte nicht.“

      „Aber Sie sind doch… Verzeihung, aber du bist doch noch minderjährig, oder?“, mischt sich Stefan ein. „Da müsstest du doch noch über deine Eltern…“

      „Ach, die… Die sind weg…“ Das Mädchen winkt ab. „Weit weg – im Himalaja.“

      Hat der Junge das Mädchen eben “Tanni“ genannt?, fragt sich Stefan. Und hat sie tatsächlich gesagt, ihre Eltern sind die im Himalaja? Womöglich in Tibet?

      Der Junge reicht ihm seine Hand, damit er sich aufrichten kann. Stefan ergreift sie, zieht sich mühsam hoch und wischt sich danach verstohlen seine Hand an seiner Zweihundert-Euro-Jogginghose ab. Als er dem Mädchen gegenübersteht, sieht er sie genauer an.

      „Is´ was?“ Sie dreht sich weg.

      „Kennen wir uns nicht?“

      „Super Anmache.“ Das Mädchen verdreht gelangweilt die Augen. „Das wüsst ich abär.“ Doch dann hält sie inne, schaut über ihre Schulter zurück und mustert Stefan von oben bis unten. Und als er langsam sein Basecap abnimmt, flüstert sie: „Da kannste recht haben, Aldär.“

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      3. Haltestelle

      Tsss. Hans Unger würde am liebsten den Schweißtropfen abwischen, der sich gerade von der Stirn des Fremden gelöst hat und ihm direkt ins Ohr rinnt. Der Mann scheint das jedoch gar nicht zu bemerken. Hans muss sich bei diesem Anblick sein rechtes Ohr reiben und sich schütteln wie ein nasser Hund. Brrr.

      Hans ist regelmäßiger Saunagänger. Nicht wie diese „Ich-muss-mich-vor-Erkältungen-schützen-Typen“, die erst ab Herbst kommen und im Frühling wieder wegbleiben. Nein, auch jetzt, Anfang Juni, bei fast 25 Grad, kommt er wöchentlich und hält es in der 90-Grad-Sauna exakt eine Viertelstunde aus, auf der oberen Bank. Jeden Mittwoch nach der Frühschicht, kurz nach 16 Uhr, besucht er in die kleine Sauna in der Nähe des Friedrichshains. Seinen ersten Aufguss bekommt er um halb fünf. Punkt 18 Uhr 52 geht er wieder los, um mit der M10 um 19 Uhr 1 zur Landsberger Allee und von dort aus mit der M8 zum „Leninplatz“, wie er ihn immer noch nennt, zu fahren. Die Freifläche ist inzwischen in „Platz der Vereinten Nationen“ umbenannt worden und der Kopf des Lenindenkmals, das dort zwanzig Jahre lang gestanden hatte, verscharrt im märkischem Sand. „Weg damit und mit all den Erinnerungen!“, hatte Hans kopfschüttelnd gesagt, als der riesige Block aus ukrainischem Granit mit Trennschleifern zerlegt wurde. „Bloß nicht daran denken, wen man da angebetet hat und was man alles in seinem Namen getan hat.“

      Hans und seine Frau Barbara, die von allen Babsi genannt wird, wohnen in der 11. Etage des 25-Geschossers. Früher war das auf der Höhe von Lenis Kopf, heute ist es immer noch hoch genug, um über die Kreuzung und von der Seite über den Friedrichshain zu schauen. Viertel acht ist er dienstags normalerweise zu Hause. Dann wartet Babsi schon mit dem Abendessen. Sein Lieblingsgericht: Königsberger Klopse.

      Als sie 1970 ihre Neubauwohnung bezogen, konnten sie ihr Glück kaum fassen: drei Zimmer mit Zentralheizung und fließendem Warmwasser. Vorher hatten sie mit ihrem Sohn Stefan in zwei Zimmern mit Ofenheizung und Außen-Toilette in einem dunklen Hinterhaus gelebt. Sie waren die ersten Mieter am Leninplatz.

      Wenn jemand etwas gegen „die Platte“ sagt, kann Hans richtig wütend werden: „Das war damals die beste Art zu bauen. Und wir waren eine richtige Hausgemeinschaft: gemeinsame Pflege der Grünanlagen und Treppenhäuser, Nachbarschaftshilfe, Grillfeste. Die meisten sind jedoch weggezogen. Früher. Heute hockt jeder allein in seiner Wohnung; auch Babsi, jedenfalls im Winter, wenn wir nicht im Garten sind.“

      Kurz bevor Hans heimkommt, legt Babsi Lippenstift auf.

      Vor zweiundvierzig Jahren hatte er sie erobert, indem er im richtigen Moment das richtige Lied sang: „Rote Lippen soll man küssen“. Babsi war Köchin im BVB-Hof und stand an der Essensausgabe. Die Haube auf ihrem Kopf sah aus wie ein Fliegennetz. Einige Male hatte Hans mit ihr geschäkert und etwas Nettes über ihre vollen Lippen gesagt, bevor er ihr schließlich einen Zettel mit seinen Fahrzeiten zusteckte. Doch sie ließ ihn warten. Erst am dritten Abend stieg sie endlich in seinen Bus ein. Knallroten Lippenstift hatte sie aufgetragen. Bis zur Endhaltestelle in der Michelangeostraße lehnte sie neben ihm und schaute ihm über die Schulter, während er den Cliff-Richards-Song summte. Nach der Schicht fuhr er sie nach Hause, mit dem Bus. Sieben Monate später war Hochzeit; drei Monate später kam ihr Sohn Stefan zur Welt.

      Hans kennt die Sauna-Frauen seit Jahren, und sie kennen ihn: Bei ihm können sie es sich nicht leisten, auch nur eine einzige Minute zu spät mit dem Aufguss zu kommen.

      „Meinen Schrankschlüssel“, grummelt er. Weil Frau Wolnik so verschreckt dreinblickt, setzt er schnell ein „Bitte“ hinzu.

      „Ihren Schrank…?“, haucht sie. Ihren süddeutschen Dialekt kann Hans immer noch nicht einordnen. Sie wird wohl aus dem Westen sein, denkt er. Ende zwanzig mag sie sein, aber sie wirkt älter und immer ein wenig schüchtern und verzagt.

      „Ick hab immer die Sieben.“

      „Das ttut mir lleid. Den habe ich eben einem anderen Herrn gegeben. Geht auch die Neun? Direkt neben der Sieben.“

      „Hm.“ Hans