Upss. Beinahe wäre er über seinen rechten Schnürsenkel gestolpert. Als er sich hinunterbeugt, um ihn zu zubinden, fällt ihm einer der Ohrstöpsel heraus. Was ist das denn? Die Punks auf der Wiese hören tatsächlich die gleiche Musik wie er: die „Ärzte“.
Jeden Tag – egal, bei welchem Wetter – läuft Stefan zehn Kilometer, neben ihm an der lockeren Leine, im konstanten Abstand von einem halben Meter – sein Irish Setter Brutus. Gleich nachdem Beatrix mit Tanja ausgezogen war, hatte er ihn sich gekauft – endlich.
Sein Pulsmesser zeigt ihm neben der Uhrzeit, dem Tag und der Lufttemperatur auch seine exakt zurückgelegte Strecke, seine Schrittzahl und seine Herzfrequenz sowie die verbrauchten Kalorien an. Er hat es immer noch drauf: Locker überholt er die fünfundzwanzigjährigen Stuttgarter „Weicheier“, wie Stefan sie nennt, „…die das Bötzow-Viertel neuerdings bevölkern, weil ihnen Papi eine kleine Wohnung im Berliner Szenebezirk gekauft hatte für ihre Studienzeit, die ewig dauern darf, weil Papi ja für alles aufkommt.“
Stefans Vater ist Busfahrer. Stefan hat sein Studium über BAföG und mit Jobs finanziert und in der Regelstudienzeit abgeschlossen. Inzwischen ist er Chef einer Anwaltskanzlei am Kudamm. Wer sich einen guten Anwalt leisten kann, einen wie ihn, der bekommt Recht, egal ob er recht hat oder nicht. Es interessiert Stefan nur am Rande, ob der Beschuldigte das, was ihm vorgeworfen wird, getan hatte oder nicht. Ihn interessiert vor allem, ob und wie er dies widerlegen kann, und was ihm dafür geboten wird. Je höher der Einsatz, desto höher sein Honorar.
Nach der Trennung war Bea mit ihrer Tochter nach Usedom gezogen. Kurze Zeit später hatte sie einen anderen Mann kennen gelernt, der Tanja gleich adoptierte – ein „Kampfgefährte“, wie Bea ihren Neuen nannte. Da wollte Stefan natürlich nicht im Wege stehen. Selbstverständlich hätte er Alimente bezahlt, großzügig sogar. Aber Bea wollte nichts mehr von ihm annehmen, „…von seinem schmutzigen Geld“.
Vor ein paar Wochen hat er sie im Fernsehen gesehen. Es ging um Tibet. Was auch immer sie das anging – sie kämpft dort jedenfalls an vorderster Front. Der verbissene Zug um ihren Mund hat sich verschärft, fand er. „Aber Power hat sie immer noch“, stellte er anerkennend fest. „Die chinesische Regierung sollte sich vor ihr in Acht nehmen!“
Wenn er an Janet denkt, die jetzt seine Frau ist, grinst er zufrieden. Sie hält ihm in jeder Hinsicht den Rücken frei: absolut loyal im Büro und zu Hause ein wahrer Schatz. Nicht einmal beim Autofahren streiten sie sich, und zwar nicht nur, weil er immer das neueste Navigationssystem hat. Wenn sie „Steve“ haucht, macht ihn das immer noch ganz verrückt.
Eine rothaarige Frau fegt gedankenverloren den Weg. Sie bemerkt Stefan nicht, der über ihren Besen springen muss. Erstaunt schaut sie ihm hinterher und brabbelt etwas von „Hochmut kommt vor dem Fall“. Aber Stefan achtet nicht weiter auf sie.
Bergauf muss er etwas kürzer treten und Brutus, der an der Leine zerrt, zurückpfeifen. Dass diese Hügel – von den Berlinern „Mont Klamott“ genannt – Trümmerberge sind, die nach dem Krieg aus zwei Trümmern zweier Flaktürme, Bunker und aus dem Schutt der in den Luftangriffen der Alliierten zerstörten Wohnhäuser aufgeschüttet worden waren, hatte ihm sein Vater erzählt. Der liegt gerade im hiesigen Krankenhaus, nach einem Herzinfarkt. Er regt sich eben viel zu leicht auf. Stefan hat ihm schon mehrfach geraten, eine Abfindung zu nehmen und in den wohlverdienten Ruhestand zu gehen. Aber der Alte ist und bleibt stur. Bisher.
Früher war er hier oft mit seinen Eltern spazieren. Im Friesen-Stadion, das jedoch kurz vor der Jahrtausendwende abgerissen wurde, hatte er schwimmen gelernt.
Ein Gitarrist steht neben einem Papierkorb und spielt vor sich hin, ohne von den Parkbesuchern beachtet zu werden. Stefan hört unter seinen Kopfhörern nicht, was er spielt. Eine typische „Birkenstock-Mutter“ – Anfang vierzig und mit einem Kleinkind, mit kurzen Haaren, in einem zitronengelben Mantel – versperrt ihm den Weg. Sie macht ihm nicht einmal Platz, als er sie darum bittet; geschweige denn, dass sie ihre Tochter, die mit einem hölzernen Tretrad kreuz und quer über den Weg fährt, für einen Moment zur Seite nehmen würde. Die Kleine ruft ihrer Mutter Befehle zu wie „Maaaama, trinken!“ und „Aaaanschieben!“ Als Stefan sich an ihr vorbeischiebt, giftet die Mutter ihn an: „Sie Kinderhasser... mit so einem Riesenvieh... Maulkorbpflicht!“
Mit übertriebener Freundlichkeit entgegnet Stefan: „Verklagen Sie mich doch!“ und rennt weiter.
Als er auf dem Berg ankommt, auf dem er üblicherweise seine Dehnübungen macht, sind dort die Punks, die er vorhin auf der Wiese gesehen hat: sechs junge Männer – einer davon dunkelhäutig – und eine Frau. Sie trägt ein schwarzes, zerrissenes Langarmshirt und einen karierten Rock, dazu Netzstrumpfhosen mit riesengroßen Löchern und rote Doc Martens. In ihrem hellblonden Haar leuchtet eine knallrosa Strähne. Vor allem ihr Hund missfällt Stefan: eine Promenadenmischung – riesig wie ein Kalb, mit wuscheligem, schmutzig-braunem Fell, wahrscheinlich total verlaust. Brutus wird unruhig. Also kehrt Stefan schnell wieder um: „Weg von der Töle, Brutus! Bei Fuß! Runter!“
Autsch! Stefan ist mit dem rechten Fuß umgeknickt und der Länge nach hingeschlagen. Seine Handflächen sind zerschrammt und sein rechter Fuß – ein einziger stechender Schmerz. Aber das Schlimmste ist, dass er nicht mehr richtig atmen kann. Ob es der Schock ist oder eine Verletzung des Zwerchfells oder die Anstrengung – warum auch immer, er bekommt keine Luft.
„Da merkst du mal, wie das ist, wenn man Angst hat zu ersticken. Wie unsere Tochter…“, hört er ganz nahe an seinem Ohr Beas schrille Stimme. „Geschieht dir recht.“
Er wird panisch, denn die Punks sind auf ihn aufmerksam geworden und setzen sich langsam in Bewegung. Schritt für Schritt kommen sie näher. Aus dem Handy des Mädchens hört Stefan das Lied der „Ärzte“ über einen Jungen, dessen Eltern sich über sein ungepflegtes Äußeres, seine Freunde, seinen ganzen Lebensstil aufregen. Das passt zu diesen Typen, denkt Stefan noch, ehe er an seinen Gürtel greift und die Notruftaste an seinem Pulsmesser drückt. Zwar erklingt der schrille Warnton, aber weit und breit ist niemand zu sehen, der ihn hören und Stefan helfen könnte. Brutus bellt, reißt sich los und stürmt auf den Hund der Punk-Lady zu. Als sie sich schützend vor ihr Tier stellt, wird sie von Brutus in den Oberarm gebissen.
„Richtig so“, denkt Stefan, „Verteidige dein Herrchen! Braver Hund!“
Doch das Mädchen reagiert ganz ruhig: „Auuuus“, sagt sie eher bittend als befehlend. Brutus lässt augenblicklich von ihr ab und hört auf zu knurren. Schließlich setzt er sich sogar vor sie hin, als wolle er sich entschuldigen.
„Schleimer“, zischt Stefan. Er atmet schnell und flach.
Immer näher kommen sie: sieben Punks und zwei Hunde. Was werden sie ihm antun? Während er sich das fragt, fällt ihm ein, wie er sie vor Gericht verteidigen würde bei einer Anklage wegen Körperverletzung mit Todesfolge: „Die Angeklagten standen unter Drogen… vermindert schuldfähig… Suchtproblematik… schwere Kindheit… Alle Resozialisierungsmaßnahmen gescheitert… Einsparungen im Bereich Jugendhilfe… Die Jugendlichen haben das nicht beabsichtigt, fühlten sich provoziert… Gruppendruck vor allem auf die jungen Männer… Sie wollten sich nur einen Spaß daraus machen, den Jogger auszuziehen und mit seinen Sachen wegzurennen. Aber er hat sich gewehrt, hat etwas gezückt, das sie für eine Waffe hielten, einen multifunktionalen Pulsmesser… Dann erste Schläge… Als er am Boden lag, feuerte das – ebenfalls unter Drogeneinfluss stehende – Mädchen die Jungs an… Erst als er sich nicht mehr wehrte, wurde ihnen klar, was sie getan hatten… In ihrer Verzweiflung und Angst warfen sie die Leiche ins Gebüsch und zündeten sie an… Sie konnten ja nicht wissen, dass der Mann noch lebte.“ So oder so ähnlich würde er argumentieren.
Jetzt steht die Truppe um ihn herum, und Stefan schaut sie von unten an – vollkommen wehrlos. „Lasst mich …“ Er hustet krampfhaft. „... in Ruhe.“
Aus dem Handy des Mädchens singen die „Ärzte“ von einem Jungen, der seinen Eltern viel Kummer bereitet.