neigte seinen Kopf und ruderte zum Ufer, und trug die
Kinder, eines nach dem andern, hinüber ans andre
Ufer. Das weiße Vöglein aber war schon hinüber geflattert,
und flog immer vor den Kindern her, bis sie
endlich aus dem Walde kamen, wieder an der Eltern
kleines Haus.
Der alte Holzhauer und seine Frau saßen traurig
und still in dem engen Stüblein und hatten großen
Kummer um die Kinder, bereueten auch viele tausendmal,
daß sie dieselben fortgelassen, und seufzten:
»Ach, wenn doch der Hänsel und die Gretel nur noch
ein allereinzigesmal wieder kämen, ach, da wollten
wir sie nimmermehr wieder allein im Walde lassen« –
da ging gerade die Türe auf, ohne daß erst angeklopft
worden wäre, und Hänsel und Gretel traten leibhaftig
herein! Das war eine Freude! Und als nun vollends
erst die kostbaren Perlen und Edelsteine zum Vorschein
kamen, welche die Kinder mitbrachten, da war
Freude in allen Ecken und alle Not und Sorge hatte
fortan ein Ende.
Das Rotkäppchen
Es war einmal ein gar allerliebstes, niedliches Ding
von einem Mädchen, das hatte eine Mutter und eine
Großmutter, die waren gar gut und hatten das kleine
Ding so lieb. Die Großmutter absonderlich, die wußte
gar nicht, wie gut sie's mit dem Enkelchen meinen
sollte, schenkt' ihm immer dies und das und hatte ihm
auch ein feines Käppchen von rotem Sammet geschenkt,
das stand dem Kind so überaus hübsch, und
das wußte auch das kleine Mädchen und wollte nichts
andres mehr tragen, und darum hieß es bei alt und
jung nur das Rotkäppchen. Mutter und Großmutter
wohnten aber nicht beisammen in einem Häuschen,
sondern eine halbe Stunde voneinander, und zwischen
den beiden Häusern lag ein Wald. Da sprach eines
Morgens die Mutter zum Rotkäppchen: »Liebes Rotkäppchen,
Großmutter ist schwach und krank geworden,
und kann nicht zu uns kommen. Ich habe Kuchen
gebacken, geh und bringe Großmutter von dem Kuchen
und auch eine Flasche Wein, und grüße sie recht
schön von mir, und sei recht vorsichtig, daß du nicht
fällst, und etwa die Flasche zerbrichst, sonst hätte die
kranke Großmutter nichts. Laufe nicht im Walde
herum, bleibe hübsch auf dem Wege, und bleibe auch
nicht zu lange aus.«
»Das will ich alles so machen, wie du befiehlst,
liebe Mutter«, antwortete Rotkäppchen, band ihr
Schürzchen um, nahm einen leichten Korb, in den es
die Flasche und den Kuchen von der Mutter legen
ließ, und ging fröhlichen Schrittes in den Wald hinein.
Wie es so völlig arglos dahin wandelte, kam ein
Wolf daher. Das gute Kind kannte noch keine Wölfe
und hatte keine Furcht. Als der Wolf näher kam, sagte
er: »Guten Tag Rotkäppchen!« – »Schönen Dank,
Herr Graubart!« – »Wo soll es denn hingehen so in
aller Frühe, mein liebes Rotkäppchen?« fragte der
Wolf. »Zur alten Großmutter, die nicht wohl ist!« antwortete
Rotkäppchen. »Was willst du denn dort machen?
du willst ihr wohl was bringen?« – »Ei freilich,
wir haben Kuchen gebacken, und Mutter hat mir auch
Wein mitgegeben, den soll sie trinken, damit sie wieder
stark wird.«
»Sage mir doch noch, mein liebes scharmantes
Rotkäppchen, wo wohnt denn deine Großmutter? Ich
möchte wohl einmal, wenn ich an ihrem Hause vorbeikomme,
ihr meine Hochachtung an den Tag
legen«, fragte der Wolf.
»Ei gar nicht weit von hier, ein Viertelstündchen,
da steht ja das Häuschen gleich am Walde, Ihr müßt
ja daran vorbeigekommen sein. Es stehen Eichenbäume
dahinter, und im Gartenzaun wachsen Haselnüsse!
« plauderte das Rotkäppchen.
O du allerliebstes, appetitliches Haselnüßchen du –
dachte bei sich der falsche böse Wolf. Dich muß ich
knacken, das ist einmal ein süßer Kern. – Und tat als
wolle er Rotkäppchen noch ein Stückchen begleiten,
und sagte zu ihm: »Sieh nur, wie da drüben und dort
drüben so schöne Blumen stehen, und horch nur, wie
allerliebst die Vögel singen! Ja es ist sehr schön im
Walde, sehr schön, und wachsen so gute Kräuter hierinne,
Heilkräuter, mein liebes Rotkäppchen.«
»Ihr seid gewiß ein Doktor, werter grauer Herr?«
fragte Rotkäppchen: »weil Ihr die Heilkräuter kennt.
Da könntet Ihr mir ja auch ein Heilkraut für meine
kranke Großmutter zeigen!«
»Du bist ein ebenso gutes als kluges Kind!« lobte
der Wolf. »Ei freilich bin ich ein Doktor und kenne
alle Kräuter, siehst du! hier steht gleich eins, der
Wolfsbast, dort im Schatten wachsen die Wolfsbeeren,
und hier am sonnigen Rain blüht die Wolfsmilch,
dort drüben findet man die Wolfswurz.« –
»Heißen denn alle Kräuter nach dem Wolf?« fragte
Rotkäppchen.
»Die besten, nur die besten, mein liebes, frommes
Kind!« sprach der Wolf mit rechtem Hohn. Denn alle
die er genannt, waren Giftkräuter. Rotkäppchen aber
wollte in ihrer Unschuld der Großmutter solche Kräuter
als Heilkräuter pflücken und mitbringen, und der
Wolf sagte:
»Lebewohl, mein gutes Rotkäppchen, ich habe
mich gefreut, deine Bekanntschaft zu machen; ich
habe Eile, muß eine alte schwache Kranke besuchen!«
Und damit eilte der Wolf von dannen, und spornstreichs
nach dem Hause der Großmutter, während
das Rotkäppchen sich schöne Waldblumen zum
Strauße pflückte und die vermeintlichen Heilkräuter
sammelte.