SCHWARZ. Markus Schweitzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Schweitzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753188379
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zieht ihn raus an die Isar. Er läuft locker. Auf den noch gefrorenen Wegen. Von der Sonne geschmolzenes Wasser überzieht das die Wege bedeckende Eis mit einer dünnen Wasserschicht. Dazwischen überall Pfützen, noch relativ klar, weil der Boden noch gefroren ist. Nur die oberste Erdschicht beginnt zu tauen, wird unter den Füßen und Fahrradreifen weich. Es macht ihm nichts aus durch das Schmelzwasser zu laufen, über den angetauten Boden. Bei jedem Schritt das Wasser aufwirbelnd. Das Wasser durchweicht kalt die Schuhe, spritzt an den Beinen hoch. Er läuft. Bei jedem Schritt automatisch, fast mechanisch aufpassend den Fuß so aufzusetzen, dass er nicht auf der wasserbedeckten Eisschicht wegrutscht.

      Er genießt die frische, noch kühle Luft, die schon wärmenden Sonnenstrahlen. Die Isar, noch eiskalt, rauscht türkisfarben neben dem Weg dahin. Die leichten Wellen und die kleinen im Gestrüpp am Flussrand festgefrorenen Eisklumpen glitzern im Sonnenlicht. Er läuft, spürt die wechselnde Konsistenz des Bodens. Umläuft Eisplatten, weicht tieferen Pfützen aus, läuft teilweise auf dem noch schneebedeckten Grasstreifen am Rand des Weges. Läuft an fröhlichen zu warm oder zu kalt, nie richtig gekleideten Menschen vorbei. Er läuft durch eine Auenlandschaft irgendwo im Raum zwischen Winter und Frühling. Jeden Schritt genießend, ohne Eile. Lässt sich treiben, die Gedanken schweifen. Das Vogelgezwitscher kaum wahrnehmend als motivierendes Hintergrundgeräusch. Schwäne und Enten schwimmen in der Sonne träge vor sich hin. Stehen das Gefieder putzend im flachen Kiesbett am Flussrand. Er lässt die Eindrücke ungefiltert auf sich wirken, er läuft Schritt für Schritt. Immer weiter dem Flusslauf folgend. Je weiter er sich vom Stadtzentrum entfernt, desto stärker ist der Boden noch gefroren, desto weniger Wasser steht auf den Wegen, desto reiner, ruhiger, unberührter wirkt die sonnenbeschienene Landschaft.

      Er läuft, während von unten die Kälte durch die Schuhe dringt und von oben die Wärme den Schweiß fließen lässt. Er fühlt sich unbeschwert, frei. Und läuft. In vertrauter Gesellschaft des Flusses. Seine Blicke gehen häufig zur Seite. Um ihn zu sehen, ihm zuzuschauen. Zu sehen, wie er sich Meter für Meter verändert. Nie langweilig ist. Immer da ist. Das ganze Jahr über. Verlässlich, charaktervoll, von unterschiedlicher Stimmung. Heute ist er von fröhlicher Kälte, wie er selbstgenügsam vor sich hinfließt ohne das Kiesbett zu verlassen. Er läuft auf eine Isarbrücke, sieht, wie der Fluss sich cyanblau leuchtend durch die noch kahlen Bäume zieht, die Wasseroberfläche durchbrochen von den weiß leuchtenden Kiesbänken. Auf denen vereinzelt noch schneebedecktes Totholz liegt. Das Weiß der Kiesel nur oberflächlich, von Ferne betrachtet weiß. Von Nahem gesehen ein diverses, heterogenes Gemenge an weißlich angeschliffenen, buntgefärbten, unterschiedlichsten Steinen. Je weiter er läuft, je später es wird, desto weiter hat die Sonne den Boden aufgetaut. War der Boden bis jetzt weich federnd, so wird er nun schmierig matschig. Von den Schuhsohlen spritzt jetzt kein Wasser mehr nach oben an seine Beine, sondern Matsch. Er läuft nun in größeren Bögen um die matschigen Wegteile herum. Muss manchmal über den Matsch, über Pfützen hinweg springen. Es stört ihn nicht. Er läuft. Ohne konkretes Ziel vor Augen. Seiner gelösten Stimmung folgend. Die Natur, die Isar beobachtend und doch tief versunken in seine Gedankenwelt.

      Schwarzdurstig

       Schwarz ist Schwarz. Aber anders. Schwarz ist Routine. Immer gleich. Aber anders. Schwarz ist Gewohnheit, Gelerntes, erwartetes Verhalten. Aber anders. Schwarz ist anders, weil jedes Schwarz immer von Neuem neu ist. Weil es immer neu produziert wird, immer im Fluss ist, immer in Bewegung, immer anders. Schwarz ist eine individuelle Illusion, auf immer neue Situationen übertragen. Vor dem inneren Auge wirkt es gleich, ist aber anders. Das andere Schwarz ist auch schwarz.

      

      Er läuft. Er liebt es im Dunkeln zu Laufen. Am liebsten dort, wo keine Lichter die Dunkelheit stören. Er läuft für die Ruhe, die Entspannung, die Gedankenleere. Er läuft immer an der Isar, viel und gerne. Das Anziehen der Laufsachen und das Zuschnüren der Laufschuhe, sobald er von der Arbeit nach Hause kommt, sind wie ein innerlicher Lichtschalter. Einmal umgelegt, nachdem die innerliche, psychische Schwelle überwunden ist, weist das schwarze Licht einen Weg zur Energie. Die braucht er. Unbedingt. Um den nächsten Tag angehen zu können. Unabhängig vom Wetter, einmal auf der Strecke, an der Isar, zählt nur das Laufen. Der Isar folgend. Im Einklang mit der jeweiligen Präsenz der Isar, beeinflusst von Wetter, Jahres- und Tageszeit.

      Er spürt die positive Wärme, die vom Schwarz der Dunkelheit ausgeht. Es strahlt die tagsüber gespeicherte Hitze ab, kontrolliert, beständig, berechenbar, angenehm. Während das Licht eine eher harte, blendende, störende Reflektion für ihn ist. Er liebt es, wenn die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen und Landschaft, Hindernisse, Menschen sich immer klarer vor dem Schwarz der Nacht abzeichnen, während er selbst im Schatten der Dunkelheit läuft. Niemals würde er eine Stirnlampe oder Reflektoren benutzen, die dieses Gefühl zunichtemachen. Er liebt die Geräusche der Nacht, die in der Dunkelheit verborgen viel deutlicher zu hören sind als am Tag. Er hat versucht beim Laufen Musik zu hören, die Leichtigkeit und Beschwingtheit der Musik als Basis zu nutzen. Aber dann vermisst er das Gefühl für die Umgebung, die Geräusche intensiv wahrnehmen zu können. Daher verzichtet er auf Musik. Er will sich ganz auf das Laufen und die Natur konzentrieren. Er will nicht abgelenkt, gestört werden. Er will eine Auszeit haben von Verpflichtungen, Erreichbarkeit und Konsum. Daher lässt er auch sein Smartphone zu Hause, wenn er läuft.

      So läuft er Schritt für Schritt in eine andere Welt, die im Schatten liegt, die dunkel ist, die schwarz ist, die schön ist, die sich gut anfühlt. So befreit er sich von der Last des Tages. Durch das Rauschen der Isar, den erdigen Geruch nach starken Regenfällen, das weiße Glitzern des Schnees im Dunklen, die Sterne am schwarzen Horizont, das Knarzen der alten Bäume, das Knirschen des Sandes unter den Schuhsohlen, das angestrengte Fokussieren auf den Weg, Unebenheiten und Hindernisse. So findet er Ruhe. Durch das dem Lauftempo angepasste Atmen, durch den mit der Anstrengung variierendem Herzschlag, durch den rinnenden Schweiß, durch die stechende Kälte der eisigen Luft des Winters in der Lunge und auf der Haut. Durch den feuchten Film auf der Haut in der abendlichen Schwüle des Sommers. So entdeckt er neue Pfade im Dickicht der möglichen Handlungsalternativen. Durch das ungerichtete Schweifen der Gedanken, durch das ziellose Fantasieren, durch das Fokussieren auf das Physische. Durch das Zulassen von Unerwartetem. Durch das reizreduzierte Schwarz. Das kontrastbetonende Schwarz, das die Farben bunter macht und das Grau verschluckt. So findet er Zeit für sich in einer überfüllten Stadt.

      Im Dunklen sind die Wege, wie auch früh morgens, leerer als tagsüber. Weniger Spaziergänger, weniger Kinderwägen, weniger Fahrräder, weniger Läufer. Weniger von allem. Weniger Ablenkung, weniger Stress, weniger auf andere achten müssen, weniger Ausweichen, weniger vom eigenen Weg abweichen müssen. Weniger soziale Interaktion. Dankbare Isolation durch das Schwarz. Meistens zumindest. Er trägt Schwarz. Um mit der Umgebung zu verschmelzen, um soweit wie möglich zu verschwinden, um sich nicht abzuheben, um aus dem Schwarz heraus zu beobachten. Um, einem Schatten gleich, über die Strecke zu schweben, kaum wahrnehmbar, fast als wäre er nie dagewesen. Eine Illusion nur. Quasi entmaterialisiert.

      Er läuft gerne spät abends, wenn die Stadt zur Ruhe gekommen ist. Wenn andere schon schlafen oder noch feiern. Wenn wenig Autoscheinwerfer, Fahrrad- oder Stirnlampen das Schwarz der Nacht zerstören, blendend zur schmerzenden Qual werden. Die Fokussierung und innere Ruhe in einen Kampf gegen das grelle Licht verwandeln. Er genießt den Freiraum, den das Schwarz schafft, den das Schwarz ihm bietet. Darum läuft er. Abends. Nachts. Im Dunklen. Im Paradies. Das würde er hartnäckig verteidigen. Gegen andere, gegen Erschließung, gegen Naherholungsaktivitäten, gegen Verkehr, gegen Licht. Vor allem gegen Licht.

      Die ziellose Freiheit des Laufens erfüllt ihn. Laufen, ohne Zweck, ohne tieferen Sinn, ohne Planung, ohne Festlegung, ohne definiertes Ende, ohne Pflicht. Nur sich selbst überlassen, mit voller Entscheidungsmacht, Entscheidungskontrolle. Ganz allein verantwortlich nur sich selbst gegenüber. Herr seiner selbst. Herrscher über das Schwarz. Pacemaker seines Lebens. Er läuft für sich selbst, er misst sich nicht mit anderen, an Zeiten, an Erwartungen, an Ergebnissen. Das Schwarz ermöglicht es ihm sich abzugrenzen, sich als nur für sich selbst verantwortliches Individuum zu begreifen, andere zu ignorieren, seine eigene Geschwindigkeit zu finden. Es ist sein Lauf. Schritt für Schritt läuft er im schwarzen Dunkel der Befriedigung entgegen. Meter