„Kannst du es nicht“, gab ihm der Vater zu verstehen, „hast du das zu lernen. Selbstzucht, mein Sohn beginnt, wo wir uns selbst etwas auferlegen. Gefühle sind ein Luxus, den wir uns bei Mädchen aus dem Bauernstand nicht erlauben dürfen. Kein Ritter, welcher etwas auf sich hält, würde die Tochter eines Schmieds an deiner Seite wie eine Hofdame grüßen. Da ist eine Barriere, die gab es schon, bevor du geboren wurdest. Wir haben das zu respektieren.“
„Mir kommen da Zweifel“, gestand Dirk. „Wir sind doch alle Menschen aus Fleisch und Blut. Reicht dir ein Bauer die Hand, fühlt sich die kaum anders an als die eines Edelmannes. Zur Jahreswende trieb es mich zum Kloster. Ich war in Rastede und habe Frederik besucht, der den Benediktinern beitrat. Er beherrscht das Latein der Bibel wie die Pfaffen und behauptet, im neuen Testament steht geschrieben: Vor unserem Heiland, der für die Christenheit starb, sind alle Menschen gleich. Wer sich für besser hält, wird tief fallen. Was den Adel ziert, ist reiner Hochmut und verächtliches Getue, eine eitle Sünde. Mir dämmert allmählich, was er meinte.“
„Die, die sich ins Kloster verkriechen, leiden an derlei Grillen, ich weiß. Dabei ist es verboten, bei privaten Zusammenkünften aus der Bibel zu lesen. Auch wenn das Frederik behauptet, lass dir keinen Bären aufbinden, von wegen, es ist aus der Bibel!“
„Grillen? Du kennst ihn. Er verstand schon gut Latein, bevor er ein Benediktiner wurde.“
„So ein Unfug!“ gab sein Vater ruppig zurück, und der Streit schaukelte sich erneut hoch, sodass Dirk Zähne knirschend aufsprang und ohne ein weiteres Wort aus dem Rittersaal floh, um ausgeschlafen zu sein am nächsten Morgen. Nichts schien weniger reizvoll, als später wie sein Vater auf der Burg zu versauern. Er nahm sich vor, den Sonderling ihrer Familie im Kloster Rastede aufzusuchen. Die Sache um Ulrike bewegte ihn mehr als sein Vater es sich vorstellen konnte. Der Einblick in das sorgenvolle Leben im Schatten der Burgen führte zu dem Schluss, rückständigen Ansichten anzuhängen. Er kam nicht mehr damit zurecht, bei der Schwertleite geschworen zu haben, den Bedrängten beizustehen, fing an, sich für seinen Stand zu schämen und kämpfte mit dem unbestimmten Gefühl, den Mund kürzlich in Berne sehr voll genommen zu haben.
Für seine neuen Freunde in Berne war er ein Edelmann, der für das, was er sagte, einstand… und Ulrike glaubte an ihn. Das erfüllte ihn mit Stolz. Er mochte sie nicht enttäuschen. Die heimliche Hoffnung, Lüder zum Burgschmied der Keyhuser zu machen, konnte er vergessen. Vor dem Tischgespräch hätte er es anschneiden müssen… und was das Leben anging, musste er sich eingestehen, er hatte die Karre übel in den Dreck gefahren. Der einzige Mensch, mit dem er darüber reden konnte, war Frederik. Erinnerungen an eine gemeinsam durchgefochtene Fehde stiegen auf, dachte er an den guten alten Frederik. Es ging damals um einen Turm auf der Straße von Oldenburg nach Leer, die durch Elmendorf ins Östringer- und Rüstringerland reichte. Die Ritter von Specken hausten am nördlichen Ende des Zwischenahner Meeres auf ihrer Burg und fädelten es schlau ein, indem sie einige entlegene Güter mit Landwirtschaft erwarben, und zwar zwei Häuser mit Weiden und Äckern und eine Mühle nahe dem Moorpass, der durchs Ammerland führte, mitsamt dem Haus des Meiers. Sie gaben den Ländereien den Namen Loie und pochten auf ihre Zuständigkeit, um eine Zollschranke zu errichten. Das hielt die Händler aus Aurich, Leer und Jever ab, weiterhin auf dem Markt von Zwischenahn ihre Stände aufzubauen, darum schritten die Keyhuser Ritter ein und steckten zur Nachtzeit den Turm bei Loie in Brand. Huno von Specken kam um bei diesem Handstreich, und Frederik musste sich auf Betreiben der erbosten Sippe vor dem zuständigen Gericht zu Godensholt wegen Landfriedensbruch rechtfertigen. Er überraschte die Kläger auf seine Weise, denn er fand zwei Zeugen, und die reichten aus, um Huno von Specken Wegelagerei nachzuweisen und ihn in drei Fällen posthum des Mordes schuldig zu sprechen; die Ländereien von Loie wurden der Ortschaft Elmendorf eingemeindet. Dirk bewunderte Frederik dafür, bewies er doch, es lohnt sich, für sein Recht einzutreten, und er vermisste seine abgeklärte Art. Ausschlaggebend für sein Untertauchen im Kloster war ein Strafgericht, eingeleitet vom Grafen von Hoya. Er durfte nicht ablehnen und verachtete sich selbst dafür, seine Hände mit dem Blut von Frauen und Kindern besudelt zu haben. Darum versteckte er sich seit Jahren im Kloster Rastede. Dirk konnte das nie verstehen. Nun war er selbst so weit, alles in Frage zu stellen... Seine beiden Freunde erreichten Tage vor ihm Burg Keyhusen, und es trieb ihn zu dem Haus aus Backstein, das dem Bau, in dem der Rittersaal lag, gegenüberstand. Der Abstecher zum Kloster dürfte unterhaltsam werden in der Gesellschaft von Godeke und Ekhard.
Godekes Gesicht wirkte nackt, ohne den gewohnten Vollbart. Er war ein Schwerenöter, und Dirk brannte es auf der Zunge, ihm von Ulrike zu berichten. Seine Kammer sah erbärmlich aus, enthielt zwei Stühle, einen winzigen Ecktisch aus Buchenholz und ein Bett. An Einrichtung im feineren Sinne enthielt sie noch eine Truhe aus Eichenholz, in deren rundem Deckel Ornamente eingeschnitzt waren, mehr nicht. Das unaufgeräumte Schreibpult wies von der Nacht her etwas Verstörtes und Wüstes auf. Der Freund schrieb mitunter Briefe, bis er darüber einnickte, die er aber niemals absandte; damit überbrückte er die Einsamkeit, wenn er gern mit einem Menschen reden wollte und niemand sich fand. „Ich glaube“ eröffnete Dirk ihm, „ich habe mich verliebt.“
Godeke amüsierte es, wie er von Ulrike schwärmte. „Na wunderbar Dirk. Genieße das Gefühl, höre auf dein Herz. Du musst nur wissen, wie weit du gehen darfst, bei einem Bauernmädchen.“
Dirk ärgerte es, sich ihm anvertraut zu haben, doch Godeke klopfte ihm schmunzelnd die Schulter. „Koste es aus. Lass dich von deinem Vater nicht einschüchtern. Jürke hat keinen Erben außer dir. Ich würde einfach ein Jahr nichts von mir hören lassen. Dann wird dich der Alte mit offenen Armen wiederaufnehmen.“
Ekhard war zwar ein Ritter, so wie Dirk und Godeke, allerdings vor allem ein Spaßvogel, und nebenbei ein Spielmann aus Freude an der Sache. Er hatte Talent, kannte einige Strophen des Nibelungenliedes und die geläufigen Volkslieder, dazu einiges vom Kürenberger und den Künstlern der Minne: Dietmar von Aist, Walther von der Vogelweide, Hartmann von Aue und Hinrich von Veldeke. Und er beherrschte die Laute, als wäre sie ein Teil von ihm. Manchen, der sein Brot so verdiente, hätte er auf dem Instrument an die Wand gespielt. In seinen grünen Augen lauerte immer ein wenig der Schalk, brünette Locken flossen ihm füllig auf die Schulter, und mitunter, wenn er überlegte, zwirbelte er unbewusst an seinem Schnurrbart. Es brauchte einen trefflichen Grund, ihn zu überzeugen. Was er nicht wollte, dazu ließ er sich nicht herab. Aber ein Grund war gegeben, galt es doch, den an das Kloster verlorenen Freund von früher aufzusuchen. Nur was voranging warf einen düsteren Schatten auf ihr Vorhaben, Dirk litt an dem Bruch mit seinem Vater. Wutentbrannt wie er sich nach dem Speisen zurückzog, tat er kein Auge zu in dieser Nacht. Auch Jürke mied ihn seinerseits und hielt sich vom Pferdestall fern, während die drei Freunde die Sattelgurte ihrer Schlachtrösser überprüften und sich gemeinsam aufmachten, über den langen Bretteranleger von Burg Keyhusen. Sein Vater blickte ihm vom südlichen Eckturm aus traurigen Augen nach.
Eine Woche lag der erste Nachtfrost zurück, und die Moorwälder des Ammerlandes, die sich vor dem Kloster Rastede erstreckten, verloren ihre letzten, gelblich verfärbten Blätter. Die meisten Vögel fehlten in Wald und Flur - es trieb sie nach Italien; obwohl durchaus hier und da eine Amsel flötete, ein Eichelhäher schnarrte, ein Raubvogel schrie, oder das lautstarke Hämmern eines Buntspechts die Stille zerriss. Dirk spürte die eigenartige Stimmung des Herbstes, während Godeke und Ekhard hinterher trabten. Sie folgten dem sonnigen Feldweg, auf dem sie immer ritten, wenn sie von Zwischenahn in die Welt aufbrachen - Anlass genug, sich plaudernd alter Zeiten zu besinnen, in denen Frederik bei keiner ihrer Unternehmungen fehlte.
Nahe der Klosterpforte stand ein hoher Kastanienbaum, den vor einem halben Jahrhundert ein Pilger in Form einer Frucht aus dem Heiligen Land mitbrachte, auch der trug schon bräunlich welke Blätter. Zu seinen Füßen lagen verstreut im Gras und am Wegesrand hunderte von stacheligen Früchten, wo Dirk leichtfüßig aus dem Sattel seines breiten Schlachtrosses sprang und an das Eichentor klopfte. Ein pausbackiger Mönch in Kutte und Strick blinzelte den Junker aus dem Schatten der Kapuze forschend an, und Dirk