Die Ehre der Stedingerin. Eike Stern. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eike Stern
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738039856
Скачать книгу
eine behäbige Frau mit breitem Becken und rotbackigen, gutmütigen Zügen, die durchaus auch streng aussehen konnte. Meistens trug sie das ergraute Haar zu Zöpfen geflochten. Unter den besonderen Umständen fiel es ihr lang, dicht und ungekämmt auf die Schulter, wirre Strähnen über der breiten Stirn, und sie blinzelte verschlafen. „Du machst mir Sorgen“, seufzte sie kopfschüttelnd, ehe sie mit einem Zunderhalm und kurzem Pusten ein Flämmchen aus dem Ofen barg. Damit entzündete sie die auf der Kommode stehende Öllampe, worauf ein diffuser Schummer die Räumlichkeit erfüllte. Das Bett ächzte, sie ließ sich mit ihrem Gewicht nieder, und Birte wies Ulrike und Geldis zu deren Erleichterung endlich die beiden am Fenster und in der Ecke befindlichen Stühle, während sie gleich dichter an ihre Mutter heranrückte.

      „Oh Gott-oh-Gott.“ Antje stöhnte, weil sie ihrer Tochter an der Nasenspitze ansah, die lehnte sich nicht von ungefähr so bei ihr an. Sie drückte Birte die Hand aufs Knie, um sie zum Reden zu ermutigen. „Was ist so wichtig, mich um die Nachtruhe zu bringen?“

      Es war an Birte, ihr die grässlichen Nachwirkungen zu schildern, von dem, was man im Rittersaal der Lechterburg mit ihnen anstellte. „Ach Mutter, es tut so weh, und ich… halte es einfach nicht länger aus“, jammerte die Freundin.

      Antje, die schon bessere Zeiten auf dem Aumundhof erlebte und auf ein erfülltes Dasein schaute, ließ betroffen den Kopf hängen. „Erinnerst du dich an Liese, unsere frühere Gänsemagd? Die kam eines Morgens auch an und klagte über solche Unterleibschmerzen.“

      Birte blinzelte verunsichert. „Ich war noch sehr klein, als sie in die Weser gegangen ist. Aber ich sehe sie noch vor mir, so eine ganz leise und sehr verschlossen.“

      Es traf Ulrike wie ein aufkommendes Frieren im Spätsommer, und Antje schlug mit Daumen und Zeigefinger ein Kreuz vor der Brust. „Heilige Mutter Gottes, alle haben sich den Mund darüber zerrissen“, flüsterte sie. „Sie wurde von einem Bettler in die Büsche am Alten Deich gezogen, beteuerte sie, aber wenige nahmen ihr das ab.“

      „Und dann…?“ Erschrocken blickte Birte die Mutter an, da sie die Geschichte derzeit tief berührte.

      Antje kratzte sich um milde Worte verlegen die gefurchte Stirn. Sie seufzte, statt fortzufahren, doch Birte wollte es genauer wissen. „Weshalb nahm sie sich das Leben?“

      Gern kam die Bäuerin nicht zur Sache. „Hauke war damals der jüngste Knecht am Hof und half früher oft am Torfstich aus. Der ist mit ihr ins Moor gegangen“, erklärte sie und verfiel ins Flüstern. „Tief im Herzen des Huder Moores lebt in einer kleinen Kate die alte Agnes, bekannt als die Hexe vom Maybusch. Die bereitete ihr eine Salbe aus Kräutern. Das linderte die Schmerzen, doch die Schande, Mädchen… die Schande brachte die arme Liese um.“

      Sie schloss mit einem dumpfen Seufzer. „Hütet eure Zunge und weicht jeder Frage aus“, riet Birtes Mutter. „Seid auf der Hut, was Männer angeht. Es gibt rücksichtlose, denen der eigene Bauch über alles geht, und die Blender. Eitel daherreden, das können sie, behalten nichts für sich, und sind schuld am Tod unserer Liese.“

      Es war eine Hoffnung am Rande des Möglichen. Ulrike, Geldis und Birte wechselten betretene Blicke; die Vorstellung, sich ins Moor zu wagen, machte ihnen Angst. „Ob der Hauke den Weg wiederfinden würde?“, wagte Birte leise zu fragen.

      Ihre Mutter zog angestrengt Atem ein, fuhr sich über Nachthemd und Busen und senkte betrübt die Stirn. „Ich frage ihn“, versprach sie, und kaum wich Birte aus der Schlafkammer und schloss hinter Geldis die Tür, hörte Ulrike die Alte dahinter vernehmlich schluchzen. Es war wie ein Urteilsspruch, und jedes der Mädchen stahl sich mit bedrückenden Gefühlen auf seine Kammer. Ulrike wälzte sich im Bett herum, bis der Hahn krähte.

      Mit dem Moment des Erwachens, als sie die Decke abwarf, um sich zu recken und den neuen Tag anzugehen, meinte sie, sich auf einen Ameisenhaufen gesetzt zu haben, und die scheußliche Entzündung verdrängte mit Macht alles Wohlbefinden aus ihrem Bewusstsein. Sie schüttelte sich - ging ja nie gerne mit, brachen alle zum Torfstich auf. Etwas trostloses, gruseliges, lastete auf dem Gelände, das hinter dem Erlenbruch begann, wo der Grund federte unter jedem Schritt und nichts gedieh, es sei denn Wollgras und Binsen.

      Zum Frühstück gab es wie jeden Morgen Biersuppe. Geldis wartete zwischen den anderen Mägden und Knechten am langen Tisch in der Diele. Gerade wurde der Deckel von einem Fass abgehoben. Der ältesten Magd fiel es zu, eine Steingutkanne voll zum Trinken abzuschöpfen, und an jedem Platz stand eine gedrechselte, tiefe Holzschale. War so weit gedeckt, brachte die Bäuerin einen schweren Topf voll dampfender Suppe. In Stücke geschnittenes Altbackenbrot und Mehlklöße wurden mit aufgekocht. Hielt einer die Schale hoch, bekam er eine Schöpfkelle voll. Dazu stand eine Bastschale mit grobkörnigem Brot aus Dinkel und Gerste und Semmeln griffbereit. Wer zum Gesinde vom Amundhof zählte, hatte das Glück, sich alle Tage satt essen zu dürfen. Vor dem Essen sprach die Bäuerin am Kopfende der Tafel ein Gebet, bevor alle hungrig nach der Schale fassten, und ein vielschichtiges, genussvolles Schlürfen einsetzte. Hinterher stellte ihnen die Bäuerin Hauke vor. Das flachsblonde Haar, längst nicht ergraut, umspielte ein starkes, leicht vorspringendes Kinn, doch war er hagerer geworden und ließ sich einen feinen, dünn gebliebenen Bart stehen. Hauke verweilte mit tonlos bewegten Lippen und suchte krampfhaft eine Ausflucht, bevor er Antje Aumund ein schiefes Lächeln entbot, weil er nicht nein sagen durfte. „Sicher, sicher… ich habe ja oft genug beim Torfstich ausgeholfen, und von dort zur Kate ist ein Katzensprung.“

      Er klatschte sich die Reste Stroh von den Händen und hob das Kinn. „Das ist ein gehöriger Marsch, bis zum Abend kaum zu bewältigen. Ich kann da nichts versprechen.“

      „Nehmt euch Zeit, und ist die Agnes zugänglich, schlaft eine Nacht in ihrer Kate“, empfahl ihnen Antje Aumund. Sie schnürte ihnen ein Bündel. Darin befand sich eine geräucherte Mettwurst und eine Seite Speck als Zugabe für die Kräuterfrau, um sie milde zu stimmen, ebenso Schmalz, und ein Stück Gekochte zum Verzehr unterwegs. „Deine Hand“, forderte sie von Hauke, und da er sie öffnete, legte sie ihm ein Markstück und einen Kupferpfennig darauf.

      „Du weißt, Hauke, das ist viel Geld“, gab sie ihm auf den Weg. „Aber wir wollen was von der Agnes, und ich lasse mich nicht lumpen. Den Backofen heize ich jetzt nicht an. Kaufe für den Kupferpfennig auf dem Markt einen ofenfrischen Laib Brot und gebe das Silberstück dem Kräuterweib, dann wird es sein Bestes geben.“

      Somit führte sie der Weg über Berne, um am Backkarren ein heißes Brot zu kaufen. In der Nacht fiel reichlich Regen, und sie wanderten auf einem zu Matsch aufgeweichten Weg, der neben dem Bächlein verlief, das hieß wie die Ortschaft Berne. Die Tage wurden schon spürbar kürzer, und sie kamen im Halbdunkel des grauenden Tages an Weiden vorbei, auf denen Rinder gelassen wiederkäuten. HHinter einem Graben erhob sich der Neuenkooper Wald aus Birken und hintergründigen Buchen und Eichen. Das hell- und vollgelbe Herbstkleid der Birken hob sich in der aufgestiegenen Sonne malerisch ab vom flammenden Rot der hohen Buchen, und der Wald wirkte bunt wie niemals vorher im Jahr. Den Wegesrand säumten halb verrottete Überbleibsel eingezogener Stauden sowie kreuz und quer geknickte Stängel und Schäfte. Krause, braungelbe Reste der Blütenkerzen des Blutweiderichs ragten heraus und deuteten an, das Jahr neigte sich dem Winter zu. Ulrike spürte die Vergänglichkeit an allem, was sie umgab und besann sich schmerzlich des vermissten Vaters. Sie wünschte, der stumm voraus trottende Knecht könnte sich zu einem Gespräch ermannen. Als der sein brütendes Schweigen brach, klang es vorwurfsvoll. „Auch, wenn ich bloß ein Kerl zweiten Ranges für euch bin, fände ich es angebracht, mir für den Weg wenigstens einen Kupferpfennig zuzustecken, wirft man schon der Hexe nobel eine Mark in den Rachen. Überhaupt frage ich mich, wofür eine Mark…?“

      Ulrike verzog herablassend den Mund. „Für was braucht ein Knecht einen Kupferpfennig? Du isst den gleichen Gerstebrei wie dein Bauer und lebst sorglos auf dem Hof.“

      Die Entgegnung machte Hauke erst recht unzufrieden. „Es sind zehn Jahre ins Land gegangen, seit ich ein Weib zur Huder Hexe führte. Damals war es die Liese. Ihr mögt für euch behalten, um was es geht, aber dann gehe ich davon aus, bei euch ist es aus dem gleichen Grund.“

      „Na du folgerst allerhand“, versetzte Geldis flapsig. „Und warum zügelst du dann nicht deine