Peggotty saß da, das Kinn auf die mit dem Strumpf überzogene Faust gestützt und blickte stumm ins Feuer.
»Also, liebe Peggotty,« sagte meine Mutter mit plötzlich ganz verändertem Ton, »seien wir wieder gut, denn ich könnte es nicht aushalten.«
»Ich weiß ja, du bist meine treueste Freundin, wenn ich auf der Welt überhaupt noch eine andere habe. Wenn ich dich ein einfältiges oder albernes Ding nannte, Peggotty wollte ich damit nur sagen, daß du meine treueste Freundin bist und warst, schon von jenem Abend an, als Mr. Copperfield mich zuerst hierherbrachte und du mir an der Gartentüre entgegenkamst.«
Peggotty ließ mit der Antwort nicht auf sich warten und besiegelte den Vertrag, indem sie mich mit einer ihrer kräftigsten Umarmungen beglückte.
Ich glaube, ich hatte damals schon eine leise Ahnung von dem wahren Sinn dieser Unterhaltung. Heute weiß ich ganz gewiß, daß die gute Person das Gespräch nur veranlaßte, um meiner Mutter durch kleine Widersprüche eine gewisse Erleichterung zu verschaffen. Die Wirkung war sichtlich, denn wie ich mich noch erinnere, schien meine Mutter den ganzen übrigen Tag viel heiterer und Peggotty brauchte sie nicht mehr so sorgenvoll anzusehen.
Nachdem wir Tee getrunken, das Feuer geschürt und die Kerzen geputzt hatten, las ich Peggotty zur Erinnerung an alte Zeiten ein Kapitel aus dem Krokodilbuch vor, – sie hatte es aus der Tasche gezogen. Ob sie es immer darin getragen hatte? – Und dann sprachen wir von Salemhaus, was mich wieder auf Steerforth brachte, mein Lieblingsthema. Wir fühlten uns alle sehr glücklich, und dieser Abend, der letzte in seiner Art und bestimmt, diesen Band meines Lebens für immer zu schließen, wird nie aus meinem Gedächtnis entschwinden.
Es war fast zehn Uhr, als wir draußen einen Wagen halten hörten. Wir standen alle auf und meine Mutter sagte hastig, Mr. und Miß Murdstone sähen es gerne, wenn junge Leute früh zu Bett gingen, und es sei schon spät. Ich küßte sie und ging sogleich mit meiner Kerze hinauf. Mir war, als ob mit den beiden ein erkältender Lufthauch in das Haus käme und das alte, heimische, traute Gefühl wie eine Feder davonbliese.
Ich fühlte mich sehr unbehaglich am nächsten Morgen, als ich zum Frühstück hinuntergehen mußte. Hatte ich doch Mr. Murdstone seit jenem Tag, als ich das große Verbrechen an ihm begangen, nicht wieder gesehen. Aber einmal mußte es geschehen, und ich erreichte die Stubentür, nachdem ich zwei- bis dreimal auf den Fußspitzen wieder umgekehrt war. Endlich trat ich ins Zimmer.
Er stand mit dem Rücken zum Kamin, während Miß Murdstone den Tee bereitete. Er sah mich durchdringend an, als ich eintrat, gab aber kein Erkennungszeichen von sich. Nach einigen Augenblicken Verwirrung ging ich auf ihn zu und sagte: »Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir. Was ich getan habe, tut mir außerordentlich leid, und ich hoffe, daß Sie es mir vergeben.«
»Es freut mich, daß es dir leid tut, David,« antwortete er.
Die Hand, die er mir reichte, war die, die ich gebissen hatte.
Ich konnte mir nicht helfen, ich mußte die rote Narbe eine Zeitlang ansehen. Aber sie war nicht so rot wie ich, als ich seinem falschen Blick begegnete.
»Wie befinden Sie sich, Maam,« sagte ich zu Miß Murdstone.
»Ach mein Gott!« seufzte Miß Murdstone und reichte mir den Teelöffel statt ihres Fingers. »Wie lang dauern die Ferien?«
»Einen Monat, Maam.«
»Von wann an?«
»Von heute an, Maam.«
»Na,« sagte Miß Murdstone. »Das wäre ja schon ein Tag weniger.«
Sie führte in dieser Art einen Ferienkalender und strich an jedem Morgen einen Tag. Anfangs schnitt sie ein trübes Gesicht, solange sie noch nicht beim zehnten war, aber ihre Mienen hellten sich auf, als die zweistelligen Zahlen erreicht waren, und wurden um so heiterer, je näher das Ende heranrückte.
Schon am ersten Tag hatte ich das Unglück, sie in einen Zustand größter Aufregung zu versetzen, trotzdem sie solchen Schwächen sonst nicht unterworfen war. Ich kam nämlich in das Zimmer, wo sie und meine Mutter saßen, und da der Säugling, der erst ein paar Wochen alt, auf meiner Mutter Schoß lag, nahm ich ihn höchst sorgsam in meine Arme.
Plötzlich stieß Miß Murdstone einen solchen Schrei aus, daß ich ihn fast hätte fallen lassen.
»Liebe Jane!« fuhr meine Mutter auf.
»Gott im Himmel, Klara! Siehst du nicht?« rief Miß Murdstone aus.
»Was denn, liebe Jane,« fragte meine Mutter. »Wo denn?«
»Er hat es!« rief Miß Murdstone. »Der Junge hat das Baby.«
Sie brach fast zusammen vor Entsetzen, richtete sich aber wieder auf, um auf mich loszustürzen und mir das Kind zu entreißen. Dann wurde ihr so schlecht, daß man ihr Kirschbranntwein geben mußte. Als sie sich wieder erholt hatte, untersagte sie mir auf das feierlichste, mein Brüderchen jemals wieder, unter welchem Vorwand immer, anzurühren, und meine Mutter bestätigte demütig das Verbot, trotzdem sie mir anderer Meinung schien, und sagte: »Du hast gewiß recht, liebe Jane.«
Wiederum bei einer Gelegenheit, als wir beisammen saßen, war das Baby – ich hatte es lieb meiner Mutter wegen – wieder die unschuldige Ursache, die Miß Murdstone in heftigste Erregung versetzte. Meine Mutter sagte nämlich, nachdem sie die Augen des Säuglings in ihrem Schoße lange betrachtet hatte: »Davy, komm einmal her und laß mich deine Augen sehen.«
Ich bemerkte, wie Miß Murdstone ihre Stahlperlen hinlegte.
»Also ich erkläre,« sagte meine Mutter sanft, »daß sie vollkommen gleich sind. Ich glaube, es sind meine Augen. Sie haben dieselbe Farbe wie meine. Sie sind einander wunderbar gleich.«
»Wovon sprichst du, Klara?« fragte Miß Murdstone.
»Liebe Jane,« stammelte meine Mutter bestürzt durch den herben Ton dieser Frage, »ich finde, daß das Baby und Davy ganz dieselben Augen haben.«
»Klara,« sagte Miß Murdstone und stand zornig auf. »Manchmal bist du ganz verrückt.«
»Aber liebe Jane,« remonstrierte meine Mutter.
»Vollständig verrückt,« sagte Miß Murdstone. »Wie könntest du sonst meines Bruders Kind mit deinem Jungen vergleichen. Sie sind einander gar nicht ähnlich. Sie sind einander vollständig unähnlich. Unähnlich in jeder Hinsicht. Ich hoffe, sie werden es immer bleiben. Ich kann solche Vergleiche nicht ruhig mitanhören.« Damit stolzierte sie hinaus und pfefferte die Tür hinter sich zu.
Mit einem Wort, ich stand mit Miß Murdstone nicht auf gutem Fuß. Überhaupt mit niemand, nicht einmal mit mir selbst. Die mich lieb hatten, durften es nicht zeigen, und die mich nicht leiden konnten, zeigten es so deutlich, daß ich mich von dem immerwährenden Bewußtsein, duckmäuserisch, ungeschickt und mürrisch zu erscheinen, nicht befreien konnte.
Ich fühlte, daß ich ihnen so zur Last fiel, wie sie mir. Wenn ich in das Zimmer kam, wo sie gerade saßen und miteinander sprachen, und meine Mutter schien heiter zu sein, umwölkte sich sofort ihr Gesicht. War Mr. Murdstone in seiner besten Laune, so kam ich als Störenfried. Und Miß Murdstones schlechteste steigerte ich noch. Ich bemerkte ganz gut, daß meine Mutter immer das Opfer war. Sie fürchtete sich,