Jetzt spuck's endlich aus. Josefine Melanie Klingner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Josefine Melanie Klingner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783753191393
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Keine Sichtkontakt. Nichts. Bis es freitags wieder nachhause ging.

      Wenn ich an den Wochenenden zuhause war, blieb ich meist bei meiner Mutter und spielte zuhause. Ich war aufgrund meines Stotterns innerlich eher schüchtern, auch wenn ich in meiner gewohnten Umgebung aufgeweckt war. Ich kannte nur ein Mädchen in der unmittelbaren Nachbarschaft, mit dem ich ab und zu draußen auf dem Wäscheplatz vorm Haus spielte. Alle anderen Kontakte zu meinen alten Kindergartenfreunden gingen verloren.

      Die Zeit zuhause war für mich rar und kostbar. Die gesamte Woche über fieberte ich dem Freitag entgegen, an dem es endlich wieder zu meiner Mutter durfte. Sie war es, die mir in der Woche am meisten fehlte. Die Wochenenden waren ein großer und langer Versuch, meine Sehnsucht abzubauen, indem ich meiner Mutter so nah wie möglich sein wollte. Ich wollte auffüllen, was während der Woche im Internat immer leerer wurde: Mein Nähetank.

      Die Bindung zwischen meiner Mutter und mir, wurde jede Woche durch unsere räumliche und emotionale Trennung wie ein Gummiband gedehnt, damit immer dünner und auf die Zerreißprobe gestellt. Stell dir ein dickes Gummiband vor, das sich spannt, wenn du es auseinanderziehst und dessen kräftige Farbe dadurch immer blasser wird. Lässt du das Band locker, lässt die Dehnung nach und es zieht sich wieder zusammen. Wiederholt man das zu oft oder wird das Gummiband überdehnt, zieht sich das Band nicht in seinen ursprünglichen Zustand zurück. Es verliert an Elastizität, wird porös und gleichzeitig schlaffer. Die Farbe verblasst an den besonders beanspruchten Stellen. Kleine Risse entstehen. Genau das passierte mit der Bindung zwischen meiner Mutter und mir.

      Unser unsichtbares Band, die Verbindung zwischen meiner Mutter und mir, glich einem immer wieder und weiter gedehnten Gummiband. Jede Woche aufs Neue hieß es Abschied nehmen. Unser Band wurde strapaziert. Jede Woche Heimweh, Tränen und Sehnsucht, die daran zerrten. Dann das Wochenende. Etwas Entlastung und Erholung für unsere Mutter-Tochter-Verbindung. Doch die Wochenendstunden reichten irgendwann nicht mehr aus, um unser Band wieder in den Ursprungszustand zurückzuschrumpfen. Die Wochenenden reichten mir nicht aus.

      Ich hatte mich noch gar nicht wieder an meiner Mutter gewöhnt, da saß ich schon wieder im Auto zurück ins Internat. Mein Kuschel- und Nähetank waren nicht ansatzweise so voll, als dass ich daraus die Woche überstehen konnte. Dabei wollte ich nichts mehr, als zuhause sein, mehr von meiner Mutter haben und mehr mit meinen Brüdern zusammen sein. Ich wollte meinen Kuscheltank auffüllen und Zeit mit meiner Familie verbringen. Stattdessen lag mir am Wochenende die Gewissheit schwer im Magen, nach nur knapp zwei Tagen wieder abzureisen. Auch wenn ich nach außen im Moment lebte und ein fröhliches Kind war, das spielte und lachte, war ich innerlich nicht stark genug für dieses Internatsding. Mir war ständig bewusst, wie vergänglich diese kostbare Zeit zuhause war und es machte mich mehr als traurig.

      Jeden Sonntag tauschte ich gezwungenermaßen meine Mutter gegen eine Hand voll Erzieherinnen und meine Brüder gegen unzählige andere Kinder im Alter von fünf bis sechszehn Jahren. Freitags dann alles retour. Statt meiner Mutter waren es nun andere Frauen, die den Großteil meiner Erziehung beeinflussten und übernahmen. Sie trösteten mich, kuschelten mit mir, erklärten mir die kleine Welt, in der ich lebte und die große, die in Zukunft auf mich warten würde. Sie schimpften auch mit mir, wenn ich etwas ausgefressen hatte. So gern ich sie auch hatte, sie konnten meine Mutter weder ersetzen noch reichten sie an sie heran. Sie rochen anders, nicht vertraut, sondern fremd. Sie sprachen anders, verhielten sich anders. Sie fühlten sich beim Kuscheln anders an. Manchmal wollte ich sie nicht umarmen, denn ich wollte zur selben Zeit meine Mutter, die ich in meinem Inneren so festhielt, nicht loslassen.

      Manchmal dachte ich dann, ich würde meine Mutter verletzen oder sie könnte böse auf mich sein, wenn sie sehen würde oder wüsste, dass ich mich in den Armen meiner Erzieherinnen für eine kurze Zeit wohl und geborgen fühlte. Vielleicht wollte meine Mutter nicht, dass ich mit ihnen kuschelte? Ich dachte manchmal, ich würde meine Mutter dadurch verraten. Dann steckte ich einfach fest. In meiner Angst und zwischen den beiden Welten. Zwischen dem Internat und meiner Familie.

      Mein Stottern zu verbessern, war mein oberstes Ziel. Also versuchte ich im Internat alles daran zu setzen, den Erwartungen und Anforderungen zu entsprechen. Ich stand pünktlich auf, machte mein Bett, putzte meine Zähne, wusch mich und machte mich für den Tag fertig. Ich folgte dem geplanten Tagesablauf, war gut in der Schule und achtete beim Essen darauf, nicht zu kleckern und vor allem nicht zu viel zu schwatzen. Am nächsten Tag das Gleiche wieder von vorn. Ich hatte gute und schlechte Tage, aber ich versuchte tapfer und stark zu sein.

      Im Internat zu bestehen hieß für mich besonders, zu lernen, mich in dieses neue System von Zusammensein einzufinden. Eine viel größere und gleichzeitig anonymeres Gemeinschaft. Ich war nicht mehr die kleine Schwester oder die jüngste Tochter. Ich war nicht mehr das einzige Mädchen in der „Familie.“ Ich war eine von vielen und konnte die anderen gar nicht alle zählen. Ich lernte in kleinere Stücke zu teilen und meine Sachen beisammenzuhalten. Statt in unserem kleinen Bad, wusch ich mich an einem von zehn Waschbecken und stand neben sechs anderen Mädchen unter der Dusche, während im Flur schon die älteren Mädchen ungeduldig warteten. Am Abend buhlten wir manchmal um die Aufmerksamkeit der Erzieherinnen. Wenn ich aber nachts Angst hatte, blieb ich still liegen, weil ich wusste, dass meine Mutter sowieso nicht kommen würde, wenn ich nach ihr rief. Rief ich dann doch einmal, weil die Angst im Dunkeln zu groß war, erklärte ich einer Erzieherin, die ich mit Du und ihrem Nachnamen ansprach, wovor ich so große Angst hatte. Das Heimweh hörte einfach nie auf.

      Zum Leben im Internat gehörte für mich natürlich auch die Sprech- und Sprachtherapie. Ich saß beispielsweise mit Kopfhörern auf meinen Ohren neben einer Therapeutin und hörte zu, wie eine mechanische Stimme allerhand Wörter vorsagte, die ich dann im selben Tempo nachsprechen sollte. Das war eine Übung, um langsam und ruhig zu sprechen. Innere Ruhe statt Hektik. Wie ein Papagei wiederholte ich die Worte. Langsam und ruhig. Darüber hinaus machten wir Übungen für eine verbesserte Atemtechnik. Stotternde Menschen atmen häufig erst aus und sprechen dann, somit geraten sie häufiger ins Stottern, weil ihnen förmlich die Luft wegbleibt. So war es auch bei mir. Was ich mir antrainierte war also: Erst einatmen und mit dem Ausatmen sprechen. Mit dieser Übung zur Atemtechnik entsteht eine Art Redefluss oder Redestrom, der das flüssige, stotterfreie Sprechen unterstützt und begünstigt. Da ich neben meinem Stottern auch besonders schnell sprach (und noch immer spreche), standen diese beiden Übungen fast jede Woche auf dem Plan.

      Mein Stottern verbesserte sich durch meinen Aufenthalt im Internat und die intensive Therapie von Monat zu Monat. Das kann ich heute noch in meinem „Muttiheft“ nachlesen. Jede Woche schrieben dort meine Erzieherinnen oder Lehrerinnen die wichtigsten Informationen für beziehungsweise an meine Mutter hinein.

      „Bitte geben Sie Josefine frische Bettwäsche mit.“ – Du hast ja schon erfahren, dass die nicht gestellt wurde. So konnte ich ein Stück von zuhause mit ins Internat nehmen und den Geruch von zuhause gleich mit.

      „Josefine macht gute Fortschritte. Bitte lassen Sie sich von ihr die Atemtechnik erklären und üben Sie diese mit ihr.“

      „Josefine kennt das Lied vom Luftballon. Lassen Sie es sich von ihr vorsingen.“

      „Josefine hatte zu Beginn der Woche – verständlicherweise – großes Heimweh.“ Eines dieser „Muttihefte“ besitze ich noch und bin beim Lesen hin- und hergerissen. Die Zeilen darin zeugen von dem, was ich erreicht, erlernt und erlebt habe. Voller Stolz und Freude. Meine Fortschritte, Höhen und eben auch meine Tiefen. Sie hielten damit auch die schweren Zeiten schwarz auf weiß und Zeile für Zeile fest.

      Ich spüre heute noch ganz deutlich, dass die beiden Welten, in denen ich lebte und zwischen denen ich zweimal wöchentlich wechselte, manchmal einfach zu groß und damit auch alles damit Verbundene zu viel für mich waren. Ich kann es heute noch fühlen. Ich verlor manchmal regelrecht den inneren Halt und tiefen Kontakt zu meiner Familie. Dann hasste ich es, dort zu sein. Ich hasste das Stottern und dass es mich im Internat festhielt. Ich suchte dann nach etwas, das mir Orientierung gab, mich tröstete und für mich da war. Meist waren es die Erzieherinnen, die mich versuchten aufzufangen. So wurde das Internat über die Jahre zu einem Ort, an dem ich sowohl etwas fand als auch Vieles verlor.

      Ich verlor die innige und grundtiefe Verbindung