Ich sprach zuerst mit meiner Mutter. Ich erklärte ihr, dass ich wissen muss, was alles mit meinem Stottern zusammenhängt, dass ich verstehen will, warum ich diejenige bin, die in unserer Familie stottert und was dahintersteckte. Ich beschoss sie regelrecht mit meinen Fragen, auch wenn mir bewusst war, dass auch ihre Antworten mehr Vermutungen als gesicherte Erkenntnisse sein würden. „Wie war das damals, als ich angefangen habe zu stottern?“ „Wie hast du das eigentlich bemerkt?“ „War ich irgendwie anders?“ „Was glaubst du, warum ich stottere?“ „War da irgendetwas? Ist da was passiert?“
Ich schien instinktiv die richtigen Fragen zu stellen und ich bekam Antworten, die in mir etwas bewegten. Sie arbeiteten regelrecht in mir. Es war, als würde sich etwas in mir direkt angesprochen fühlen und mich darauf hinweisen, genau zuzuhören und immer weiter zu fragen, um immer tiefer an das zu kommen, was noch verschüttet in mir war. Auch wenn ich gleichzeitig Unsicherheit und Aufgeregtheit in mir spürte, sprudelte es weiter aus mir heraus. „Erzähl doch mal genauer, wie das damals war.“ „Was hat das mit dir gemacht?“ „Wie ging es dir damit?“ „Wie hast du das damals alles gemacht?“
Mein Oberkörper zitterte, ich hatte kalte Hände und zog meine Schultern nach oben. Nach außen war ich ein einziges verkrampftes Wesen, während in mir die Emotionen tobten und mir einen Schauer nach dem anderen durch den Körper jagten. Als hätte jemand in mir den Alarmknopf gedrückt und damit alles in mir auf Aufmerksamkeit geschaltet.
Wir lebten in einer Kleinstadt, gut 25 Kilometer südwestlich von Leipzig. Wir. Das waren meine Mutter, mein Vater, meine beiden Brüder und ich. Jeden Morgen fuhr meine Mutter mit dem Fahrrad die drei Kilometer ins Nachbardorf zur Arbeit, nachdem sie mich und meinen knapp ein Jahr älteren Bruder zuvor im Kindergarten ablieferte. Mein ältester Bruder war zu dieser Uhrzeit meist schon in der Schule. Da mein Vater als Baggerfahrer im Schichtbetrieb arbeitete, hatte er das Haus entweder bereits verlassen oder musste erst später los. Am Nachtmittag spielten wir Kinder zuhause, bis meine Mutter zum Abendessen rief und gingen im Anschluss daran nacheinander in die Badewanne und bald darauf ins Bett. Am kommenden Tag wiederholte sich alles in etwa auf die gleiche Weise. Wir waren eine Durchschnittsfamilie, wohnten in einer Durchschnittskleinstadt und führten ein Durchschnittsleben. Zumindest aus dieser Perspektive.
Als 4-jähriges Mädchen hatte ich keine Ahnung davon, dass mein Vater seit Jahren vor und nach der Arbeit zur Kellertreppe abbog, um dort noch einen kräftigen Schluck aus der Schnapsflasche zu nehmen, bevor er diese wieder hinter einem losen Ziegel in der Mauer versteckte. Meine Mutter wusste das. Sie hörte ihn. Sie roch es. Sie kannte seine Verstecke, die Mengen und Marken. Sie wusste auch, dass sie schon jahrelang machtlos gegen den Suff war und hoffte dennoch, dass es irgendwann besser werden würde und dass mein Vater aufhörte zu trinken. Aus dieser Perspektive gehörte also noch der Durchschnittspegel meines Vaters zu unserem Durchschnittsleben.
Gegen sein Verlangen nach dem Alkohol, gegen die leeren Versprechen und gegen die Abwärtsspirale, die sich durch den Suff und seine Auswirkungen immer tiefer durch die Beziehung meiner Eltern hindurch und zugleich in unsere Familie hineinfraß, hatten alle Beteiligten keine Chance. Der Durst meines Vaters war immer da und blieb, genau wie der Alkohol.
Wenn Blut redensartlich dicker ist als Wasser, ist der Alkohol der Stoff, der Blut und Blut zu trennen vermag. In diesem Fall meinen Vater von seiner Familie. Er hat nie seine Hand gegen uns Kinder oder meine Mutter erhoben. Unerträgliche und unsägliche Dinge geschahen trotzdem. Das Zusammenleben mit meinem Vater war für meiner Mutter zu einer emotionalen und körperlichen Belastung geworden. Die Streitigkeiten wurden häufiger und seine Alkoholverstecke immer absurder. Bis sein Bemühen, die Flaschen zu verstecken, weniger wurde und er es gar nicht mehr verbarg. Mein Vater trank immer mehr und noch mehr, während das Leben mit ihm für uns alle immer schwerer und schwerer wurde. Irgendwann wich dann die Hoffnung meiner Mutter einer nüchternen Klarheit. Mein Vater würde sich nicht ändern.
„Es ging nicht mehr.“ Sagte meine Mutter über Dreißig Jahre später zu mir, als ich sie fragte, was damals passiert sei und was vielleicht mit meinem Stottern in Verbindung stand. Sie war sich sicher, dass wir Kinder, ihren Kummer und Stress nicht etwa nur hautnah miterlebten, sondern auch in uns aufnahmen. Bereits als meine Mutter mit mir schwanger war, wurde das Trinken meines Vaters erst mehr und dann schlimmer und er selbst wurde laut und unerträglich. Unkontrolliert. Sie musste etwas tun, sich und uns Kinder schützen. Sie warf ihn mehrmals aus der Wohnung, weil alles Reden, jeder Appell an die Vernunft keine Chance gegen seine vom Suff vernebelten Sinne hatte.
Ich war also von meinem ersten Herzschlag an stets dabei, als die Sorgen und der Kummer meiner Mutter zu einem festen Bestandteil ihres Lebens wurden. Aber erst als ich vier Jahre alt war, kam für meine Mutter der Zeitpunkt der Kapitulation. Die Trennung war unvermeidlich. Damit wurde nicht nur die Paarbeziehung meiner Eltern, sondern auch die Beziehung von uns Kindern zu unserem Vater beendet.
„Es war ein längst überfälliger Schritt.“ Erklärte mir meine Mutter später.
„Es ging nicht mehr, es wurde immer schlimmer. Er war laut, hat randaliert. Ich musste euch beschützen.“ Für meinen Vater war es nicht mehr möglich, uns nüchtern zu begegnen, sich um uns kümmern, mit uns zu spielen und uns damit ein Vater zu sein. Wenn das überhaupt jemals der Fall war.
Die Trennung meiner Eltern war das Ende eines jahrelangen Prozesses der von Höhen und Tiefen, andauernden Konflikten, Niederlagen und kleinen Siegen, sowie Anspannungen, Streitereien und der immerwährenden Hoffnung meiner Mutter geprägt war, das irgendwie doch hinzubekommen. In so einem Prozess sind immer die Kinder diejenigen, die das damit einhergehende Leid der Eltern mittragen und nicht selten in Loyalitätskonflikte rutschen.
Mit den eigenen Wunden beschäftigt, ist es für Eltern meist schwierig bis unmöglich, sich auf neutralen Posten zu begeben und das Kind bei seinen Gefühlen wie Trauer, Wut, Schuld, Hilflosigkeit und dem ganzen Trennungsschmerz zu unterstützen. War die Trennung meiner Eltern und der Schmerz meiner Mutter die Auslöser für mein Stottern?
„Gut möglich.“ Antworte mir meine Mutter, als ich sie direkt darauf ansprach. Denn als meine Mutter meinen Vater endgültig rauswarf, kapitulierte meine Sprache fast zeitgleich und ich zog mich zurück. Unbemerkt von meinem Umfeld trat ich schrittweise den inneren Rückzug an. Ich spürte, dass meine Mutter regelrecht am Anschlag war und nicht noch mehr tragen konnte. Sie versuchte uns und sich zu schützen, indem das Thema, also die Trennung meiner Eltern, zu keinem Thema gemacht wurde. Damit fehlte mir aber nicht nur die Anlaufstelle, die ich gebraucht hätte, sondern auch eine Erklärung für das, was ich miterlebte, auch wenn keiner darüber sprach.
Meine Mutter erklärte mir damals nicht, weshalb mein Vater weg war. Er war es einfach. Ich verstand als kleines Mädchen von vier Jahren nicht, warum mein Vater plötzlich weg war. Wie sollte mir meine Mutter auch verständlich erklären, dass mein Vater alkoholkrank war und sie sich deshalb von ihm trennte? Trafen wir meinen Vater auf der Straße, schauten wir weg und gingen an ihm vorbei, als würden wir ihn nicht kennen. Wir gingen einfach weiter. Das liest sich erst einmal hart, aber meine Mutter sah nicht nur meinen Vater, sondern einen alkoholkranken, betrunkenen Mann mit seiner ebenfalls betrunkenen neuen Freundin, der Schwierigkeiten hatte, sein Gleichgewicht zu halten. Aufgeschwemmt und ungepflegt. Es war ihr Mutterinstinkt, der das Zepter übernahm und die Gefahr von uns Kindern fernhalten sollte. Sie tat in diesen Momenten das, was sie für richtig hielt und was für uns das Beste war. Sie wollte mir und meinen Brüdern damit nicht wehtun, uns schaden oder uns den Vater vorenthalten. Sie wollte mich und meine Brüder beschützen.
„Dein Vater war kein Teufel. Er war Alkoholiker. Ich wollte nicht, dass ihr das weiter mitbekommt.“ Sagte meine Mutter. Und auch wenn sie damals keinen anderen Ausweg außer den des Kontaktabbruchs sah, blieb er mein Vater und Teile