Als der Rundgang beendet war, besprachen meine Mutter und die Schulleiterin noch die Formalien, während ich wieder neben dem Pförtnerhäuschen im Foyer stand und versuchte, das Gesehene in meinem kleinen Kopf zusammenzupuzzeln. Meine Mutter rief mich zu sich, wir verabschiedeten uns von der Leiterin und traten die Rückfahrt nachhause an.
Aus späteren Gesprächen mit meiner Mutter weiß ich, dass sie vom Gesamtkonzept überzeugt war. Sie war sich sicher, dass ich dort in guten Händen wäre. Kurz nach unserem Besuchertag meldete mich meine Mutter daher im Kindergarten der Sprachheilschule an.
„Bald bin ich weg.“ Mit diesem Satz hüpfte ich dann Mitte des Jahres 1989 durch meine Kindergartengruppe. Zugegeben es musste sich anders angehört haben. Weniger flüssig. In etwa so: „Ba-Ba-Ba-Ba-Bald bin i-i-ich w-w-w-w-weg.“ Diesen letzten Tag in meinem alten Kindergarten verbrachte ich mit meinen Freundinnen und Freunden, malte meiner Lieblingserzieherin ein letztes Bild, im Garten tobte ich ausgelassen und ich lachte mich über irgendwelche Dinge schlapp. Ich war unbeschwert und fühlte mich wohl. Alles war wie immer. Mit einem Unterschied. An diesem Freitag sagte ich nicht „B-B-B-Bis Mo-Mo-Mo-Mo-Montag!“, an diesem Freitag war der Abschied für länger, was ich allerdings nicht wirklich begriff. Ich wusste ja nicht, dass ich meine Freundinnen und Freunde aus dem Kindergarten erst knapp fünf Jahre später wiedersehen würde. Das klingt heute total verrückt, aber so war es. Niemand wusste oder konnte sagen, wie lange ich im Internat bleiben musste.
Aufregung und Vorfreude waren ein besonderer Cocktail, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wer mir den eingeflößt hatte. Vermutlich aber meine Mutter und all die anderen Zuspruch spendenden Stimmen, die mir sagten, wie toll es im Internat sei und dass mein Stottern dadurch besser werden würde. Ich wurde vom guten Zureden angesteckt und war schon ganz aufgeregt. Ich in der großen Stadt. Ich im Internat. Der Tag rückte immer näher.
Mit fünf Jahren realisierte ich nicht, was ein Internatsleben wirklich bedeutete. Ich hatte nicht die geringste Vorstellung davon. Natürlich vertraute ich auf die Entscheidungen meiner Mutter. Wer tut das nicht mit fünf Jahren? Sie erklärte mir am Tag, als es soweit war – es war ein Sonntag – noch einmal, weshalb das Internat richtig und wichtig für mich war und erinnerte mich an den Rundgang, den wir mit der Leiterin dort gemacht hatten. Daran was wir alles entdeckt hatten. In meinem Kopf wirkten sowohl die Bilder des Rundgangs als auch die Worte meiner Mutter. Wie toll es dort wohl sein würde und was dort alles auf mich wartete? Ich freute mich, als wir losfuhren, war aber auch etwas nervös. Jetzt galt es für mich stark zu sein, das wusste ich und ich merkte es auch daran, dass meine Mutter selbst irgendwie anders war.
Je näher wir dem Internat kamen, desto mulmiger wurde mir. Ich bekam Angst und wollte am liebsten umkehren. Meine Mutter versuchte mich zu beruhigen, indem sie wieder und wieder sagte, dass sie mich bald wieder abholen würde. „Nur bis Freitag, dann hole ich dich wieder ab.“ Ich hatte keine Ahnung, wie lange „nur bis Freitag“ war. Ich war fünf und konnte nicht mal die Uhr lesen. Ich wusste nur, dass mir bei dem Gedanken daran, von meiner Mutter getrennt zu sein, sofort die Tränen in die Augen schossen. Ich hatte auch keine Ahnung davon, dass „nur bis Freitag“ für alle Wochen der kommenden fünf Jahre gelten sollte. Das wusste damals nicht einmal meiner Mutter.
Als wir im Internat ankamen, wurden wir bereits erwartet. Ich war zudem nicht die Einzige, die bereits am Sonntag anreiste. Meine Mutter, meine Brüder und ich folgten der Erzieherin, die uns zu einem großen Schlafzimmer führte. Dort würde ich und drei weitere Mädchen schlafen, erklärte sie uns. Es gab zwei Doppelstockbetten, zwei Schränke, einen Tisch und vier Stühle. Ich durfte mir ein Bett aussuchen und wählte das untere Bett an der Wand zum Fenster. Während ich mich umsah, räumte meine Mutter meine Kleidung in meinen Schrank, bezog mein Bett und setzt mein Kuscheltier aufs Kopfkissen. In diesem Moment ahnte ich wohl, was als Nächstes kam und fing schon vorsorglich an zu weinen. Ich klammerte mich abwechselnd an meine Mutter und meinen großen Bruder. Ich war überhaupt nicht mehr überzeugt davon, dass ich ins Internat gehörte. Ich wollte kein Internatskind mehr sein.
„Am Freitag hole ich dich schon wieder ab.“ Sagte meine Mutter immer wieder mit ruhiger Stimme, aber ich wollte sie nicht loslassen. Nach einigen Minuten kam die Erzieherin dazu. Nun versuchten die beiden gemeinsam mich mit gutem Zureden von meiner Mutter loszubekommen.
„Es wird Zeit.“ Sagte die Erzieherin.
„Du wirst sehen, die Zeit wird ganz schnell vergehen.“ Sagte meine Mutter und hatte dabei selbst Tränen in den Augen. Ich heulte Rotz und Wasser. Es fiel mir endlos schwer, von meiner Mutter Abschied zu nehmen.
Innerhalb weniger Stunden lernte ich ein neues Wort: Heimweh. Davon erzählte mir vorher niemand etwas. Dieser stechende Schmerz in meinem Herzen, der mir auch noch die Kehle zuschnürte. Er kam immer wieder. Nicht nur an diesem Anreisetag, sondern auch an den Tagen darauf. Mitten am Tag. Beim Essen. Beim Spielen. Und am schlimmsten war es am Abend, wenn ich ins Bett gehen musste.
Dass meine Mutter nicht da sein würde, wenn dieses „Heimweh“ da war und dass es schrecklich weh tat, ich dabei kaum Luft bekam und immer zu weinte, verschwiegen mir alle vorher. Genau wie die Tatsache, dass die Regeln in einem Vierbettzimmer andere waren, als zuhause wo ich mir das Kinderzimmer nur mit meinem Bruder teilte. Meine Mutter erzählte mir auch nicht, dass ich darauf verzichten musste, dass sie mich am Abend ins Bett bringt, zudeckt und mir einen Kuss gibt. Sie sagte mir nicht, dass dies Erzieherinnen übernehmen würden, deren Arbeitsschichten im Wochenrhythmus wechselten. Dass ich Monate später ohne meine Mutter schwimmen lernen und mein Seepferdchen machen würde, dass ich meine Geburtstage der kommenden fünf Jahre ohne sie feiern würde, dass ich ihr meine ersten Schulnoten nicht sofort stolz wie Bolle unter die Nase halten würde und dass jede Umarmung und jeder Kuss von ihr aufs Wochenende verschoben werden würde, wusste ich auch nicht. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie doof es sich anfühlen würde, wenn ich montags aufs Knie fiel und erst am Freitag von meiner Mutter getröstet wurde, wenn ich ihr dann die bereits grindige Wunde präsentierte. Ich wusste nicht mal, ob ich ihr alles erzählen konnte, was ich erlebt hatte. Und dass es unendlich einsam und gruselig im Internat war, wenn ein Feiertag auf einen Wochentag fällt und ich mit einer Hand voll anderen Kindern im Internat bleiben musste, „weil sich die Fahrerei nicht lohnt,“ erzählte mir vorher auch niemand.
Das Internatsleben war für mich als Fünfjährige kein großes Abenteuer, sondern eine frühe Herausforderung. Ich habe weder Sehnsucht, Tränen, Alleinsein noch dieses neue „Heimweh“ erwartet. Mein kleiner Gedankenkosmos konnte das Unbekannte vorher gar nicht produzieren. Ich hatte gerade am Anfang große Schwierigkeiten, mich dort einzufinden und ohne meine Mutter zu sein. Und auch immer mal wieder gab es Momente, die mich emotional in die Knie zwangen. Wenn ich krank wurde zum Beispiel und mit einer Erkältung allein auf der Krankenstation lag. Das waren Momente, als ich nachhause wollte und die Nase voll davon hatte, auf Freitag zu warten.
Meine Zeit im Internat kann man mit einem Internatsaufenthalt aus dem Jahr 2021 nicht gleichsetzen. An dieser Stelle ist mir wichtig, kurz diesen Vergleich zu ziehen. Denn wer heute an ein Internat denkt, verknüpft sie mit den Gegebenheiten der heutigen Zeit. Vielleicht mit Smartphones, täglichen Anrufen zuhause, Selfies vom Schulhof und Sprachnachrichten zur Aufmunterung. Damals war alles eine Spur einsamer. 1989 wehte noch die DDR-Flagge am Leipziger Rathaus. Das iPhone sollte erst achtzehn Jahre später auf den Markt kommen und wer zuhause ein Telefon besaß, gehörte schon zur upper class. Und ich spreche von einem Telefon mit Schnur!
Niemand hätte damals an etwas wie FaceTime oder SMS gedacht. Helikoptereltern wären daran wohl zerbrochen. Ich schickte meiner Mutter keine Sprachnachrichten, Handyfotos von meinem Tag oder von unseren Ausflügen, weil es diese technischen Geräte nicht gab. Briefe oder Postkarten schrieb ich nicht, weil ich noch nicht schreiben konnte und auch als ich älter wurde, waren fünf Tage keine wirkliche Zeitspanne, um einen Brief loszuschicken. Er wäre wohl erst