Jetzt spuck's endlich aus. Josefine Melanie Klingner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Josefine Melanie Klingner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783753191393
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im Lauf einer Schusswaffe klemmt oder feststeckt, so ist es bei mir das Wort, das meine Kehle einfach nicht verlassen will. Ich bin Zeugin dieses Schauspiels, stelle den Ort des Geschehens dar und spiele zugleich die Hauptrolle. Paradox. Ich spüre die Hemmung, das verkeilte Wort oder die klemmende Silbe und jedes Stolpern, immer wieder und wieder. Manchmal habe ich das Gefühl, es passiert alles in Zeitlupe.

      Vielleicht kennst du das: Du stolperst und findest den Tritt nicht wieder, gerätst ins Straucheln und beginnst zu fallen. Jede Millisekunde erlebst du um ein Vielfaches länger. Die Zeit dehnt sich plötzlich aus. Deine Aufmerksamkeit ist fest im Moment verhaftet. Du erlebst, wie du fällst, deine Gedanken und Bewegungen sind nur darauf gerichtet. Alles um dich herum wird still. Deine Hände erheben sich zum Schutz, um den Aufprall abzufedern. Du bist Beobachter und Akteur zugleich. Als stünde eine zweite Version direkt neben dir und wird Zeuge dieses Schauspiels.

      Während du dich wie in Zeitlupe immer weiter dem Boden näherst, schießen dir Gedanken durch den Kopf wie, hoffentlich sieht das jetzt keiner oder Fuck, das wird wehtun. Alles um dich herum scheint in diesem Moment an Tempo zu verlieren, nur damit du ganz im Bewusstsein des Fallens sein kannst. Die Zeit steht nahezu still. Deine Augen sind aufgerissen, deine Mimik erstarrt. Umgebungsgeräusche sind für dich noch immer nicht wahrnehmbar. Du bist in einem Tunnel.

      Wenn dein erstes Körperteil den Boden berührt und langsam die Stauchung einsetzt, bist du immer noch näher dran als nur dabei. Erst das rechte Knie. Ein stumpfer Aufprall. Schmerzlos. Die beginnende Stauchung fährt Richtung Hüfte. Der Schub bringt weiteren Vortrieb in deine Arme, Hände und deinen Oberkörper. Dein Oberschenkel berührt den Boden und beginnt als Bremsklotz zu fungieren, während sich deine Hände auf den Bodenkontakt einstellen. Instinktiv reißt du dein Kinn nach oben, um deinen Kopf zu schützen. Zahnersatz ist schließlich teuer. Deine Hüfte neigt sich dem Boden entgegen und unterstützt den Oberschenkel in seiner Bremsfunktion. Hüftknochen trifft Asphalt. Deine Hände schließen sich an und schürfen mit den Ballen über den harten Untergrund. Splitter für Splitter bohrt sich unbemerkt in deine Handflächen. Dein Schmerzempfinden ist vom Adrelin betäubt. Dein Tempo verlangsamt sich mehr und mehr, da die Masse deines ganzen Körpers in Richtung Asphalt drückt. Du kommst zum Stillstand.

      Langsam beginnst du dich zu orientieren. Du schaust dich nach links und rechts um. Plötzlich setzt der Lärm um dich herum wieder ein. Dein Knie, dein Oberschenkel und deine Handflächen fühlen sich wund an. Ein unangenehmes Brennen setzt zeitgleich ein. Splitt und andere Kleinteile stecken in der Haut deiner Knie und Handflächen. Es brennt immer mehr. Du bewegst dich langsam, versuchst aufzustehen und stöhnst leise auf. Das Adrelin verfliegt langsam und macht dem Schmerz Platz. Immer mehr Schmerz strömt nach und nach durch deinen Körper. Erst auf allen Vieren, danach der aufrechte Gang. Alles schmerzt. Jedes Detail brennt sich ein. Im Moment und für später. Noch Tage und Wochen danach bist du in der Lage, exakt zu beschreiben, was und wie dir geschehen ist.

      So ähnlich geht es mir, wenn ich ins Stottern gerate. Ich spüre die Worte in meiner Kehle, das einsetzende Stocken, das Stottern. Die Zeit beginnt sich zu denen. Meine Aufmerksamkeit richtet sich zentral auf mein Stottern. Alles andere um mich herum wird ganz kurz still. Wiederholung um Wiederholung. Immer wieder dieser eine Buchstabe. Immer wieder dieser eine Laut. Die eine Silbe. Ich bin so aufmerksam, dass es mir leichtfällt, die Wiederholungen mitzuzählen, bevor das ganze Wort endlich meine Kehle verlässt. Währenddessen beobachte ich neben meiner eigenen auch die Hilflosigkeit meiner Zuhörer und fühle die Schamesröte in mein Gesicht steigen. Meine Wangen werden erst warm, dann rot und schließlich glühen sie. Die Scham ist mir buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Noch größeres Unbehagen setzt ein.

      Die stockende Sprache lähmt für einen Moment meine Gesichtszüge. Ich bin Zeugin meiner eigenen Grimassen, die mir fest ins Gesicht gemeißelt sind, da sich die Zeit unendlich weiter ausdehnt und ich einfach nicht vorankomme. Als friert mein Gesicht ein. Das Wort steckt immer noch fest, während ich im Gesicht meines Gegenübers die Hilflosigkeit und sein eigenes Unbehagen ablesen kann. Ich spüre mein Blinzeln, das Zucken meiner Lippen, meine schräge Mundpartie und meine Zunge, die beharrlich eine gefühlte Ewigkeit an ein und dieselbe Stelle in meinem Mund schlägt. Als hängt mein Tape, als hätte meine Schallplatte einen Sprung. Unkontrollierbar für mich. Das Stottern kontrolliert mich in diesem Moment, es kontrolliert, wie ich mich fühle, nach außen gebe und von anderen wahrgenommen werde.

Neue Welt

      Mit den Kontaktdaten der Sprachheilschule in der Tasche, machten sich meine Mutter und ich nach dem letzten Besuch bei der Logopädin auf den Weg nachhause. Wenige Tage später vereinbarte meine Mutter bereits einen Termin mit der Schulleiterin. Diese lud uns ein, die Schule und das dazu gehörige Internat zu besichtigen, um einen ersten Eindruck zu erhalten. Sie würde uns herumführen und wir könnten uns alles einmal anschauen. Gesagt, getan. Wir fuhren bald darauf nach Leipzig.

      Für meine Kinderaugen war die schiere Größe dessen, was sich nach einer guten halben Stunde Autofahrt vor mir als Schule auftat, nicht zu erfassen. Ein riesiger mehrstöckiger Komplex mit mehreren Gebäudeteilen, Schulhof und Grünanlagen. Eine gewaltige Waschbetonfassade brachte mich zum Staunen. Große Braune Fenster waren von innen mit Basteleien beklebt. Vom Gehweg aus eröffnete ein kurzer, aber breiter Vorplatz das riesige umzäunte Areal. Eine breite Treppe mit einer Hand voll Stufen führte hinauf zum Eingangsbereich. Vier Flügeltüren reihten sich aneinander. Sie waren ebenfalls braun und hatten getönte Glaseinsätze.

      An der Hand meiner Mutter stieg ich Stufe für Stufe hinauf Richtung Tür. Wir betraten das Gebäude. Aus seinem Pfortenhäuschen Seite begrüßte uns ein besonderer Mann. Es war der Pförtner. Das hatte ich noch nie in meinem Leben gesehen. Ein Mann, der in einem Glaskasten sitzt und aufschreibt, wer da vor ihm steht. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und presste neugierig meine Wange an die Scheibe, um zu sehen, was alles auf seinem Schreibtisch stand. Ich sah eine große Telefonanlage mit unzähligen Knöpfen und Schaltern. Einige leuchteten oder blinkten. Ich sah zu ihm hoch und er sah mir grinsend in die Augen. Ich sank von meinen Zehenspitzen zurück auf meine Füße und ging einen Schritt vom Pförtnerhäuschen zurück. Meine Mutter trat vor und meldete uns bei ihm an. Er bat uns einen Moment zu warten und nahm den Telefonhörer, um zu telefonieren.

      Dort standen wir also und warteten in einem riesigen Foyer mit großen dunklen Mamorfliesen, die blau-schwarz und dunkelgrün schimmerten. Sie glitzerten auch bisschen. Einige Erwachsene und Kinder liefen an uns vorbei und verschwanden nacheinander in einem der unzähligen Gänge. Ich wusste gar nicht recht, wo ich hingucken sollte.

      Lange Fensterfronten links und rechts des Foyers boten mir einen Blick in die Gärten, die sich auf beiden Seiten um das Gebäude herum befanden. Der rechte war eine Grünanlage und wirkte auf mich fast wie ein Dschungel. Große Pflanzen, Hecken, Büsche und Bäume und einem dunklen grün reihten sich wild aneinander. Der Garten auf der linken Seite wurde als Schulhof und Spielbereich genutzt. Alles war so groß, dass meine Augen schon müde wurden. Ich stand schüchtern und beeindruckt neben meiner Mutter und hielt ihre Hand ganz fest.

      Kurze Zeit nach meinem optischen Rundflug wurden wir von der Schulleiterin empfangen und der Rundgang durch die Sprachheilschule und das Internat begann. Während ich aus dem Staunen nicht mehr rausfand und meine Augen immer müder wurden, ließ sich meine Mutter geduldig von A bis Z alles erklären. Entstehungsgeschichte, Betreuungs- und Therapiekonzept, Auslastung des Internats, Kindergartenbereich, Schultrakt, Tagesablauf, Freizeitangebote, Schlafräume, Außenanlage mit Spielplatz, Umgebung und so weiter.

      Die Leiterin führte uns währenddessen durch die Räume. Als wir im Speisesaal ankamen, traute ich meinen Augen kaum. Es war der größte Raum, den ich jemals gesehen hatte. Ich konnte schon zählen, aber es waren zu viele Stühle und Tische, die in mehreren Reihen den gesamten Raum ausfüllten. An der hinteren Wand hing ein riesiges Holzmosaik. Es zeigte verschiedene Märchenfiguren, wie Rotkäppchen und mit dem bösen Wolf oder die sieben Geißlein mit ihrer Mutter. Mit meinen kleinen Fingern tastete ich die Erhebungen ab. Auch das hatte ich noch nie gesehen, geschweige denn berührt.

      Immer mal wieder wandte sich meine Mutter zu mir und wies mich auf etwas hin, von dem sie dachte, dass es mich besonders begeistern könnte. Auch fragte sie, ob mir gefallen würde, was ich sah. Sie erklärte mir, wozu das eine oder andere gut oder nötig