Meine Persönlichkeit wurde mir ausgetrieben, meine Lebensfreude ausradiert, meine Freundinnen weggetrieben, eine eigene Meinung stand mir nicht zu. Für ihn gab es ohnehin nur zwei: seine oder die falsche. Selbst Wasser war nicht nass, wenn er es so wollte. Er presste mich immer mehr in die Form, die ihm genehm war.
Nahte Besuch, malträtierte er mich im Vorfeld, bis ich in Tränen ausbrach. Danach begrüßte er die Gäste mit dem Schwung eines Siegers und kommentierte mit verächtlichem Schnauben das Lob, das an mich gerichtet war: „Ja. Kochen kann sie.“ Um ihm zu gefallen, bewies ich einen Intellekt, der nicht über die Küche hinausging.
Großzügig spielte er den fürsorglichen Ehemann, berührte mich zärtlich und sah liebevoll auf mich herab. Die blitzschnellen Wechsel zwischen fröhlichem Lächeln, mit dem er seinen Besuch beglückte und der verachtenden Grimasse, wenn er sich mir zuwandte, sah nur ich.
Für mein Umfeld war ich die unzufriedene Gattin, die nicht dankbar war für ihren außerordentlichen Partner. Beklagte ich mich, meinten sie: „Hör auf. Jetzt übertreibst du aber massiv.“ Dabei war es noch untertrieben.
Er hatte sie auf seine Seite gezogen und ihr Mitgefühl galt ihm. Auf meine ständig gereizte Laune angesprochen, antwortete er lächelnd: „Ach weißt du, ich habe Geduld. Was soll ich denn machen? Da sind ja noch die Kinder.“
Beinahe hätte er mich ausgelöscht.
Alexander war 12 Jahre alt, als er sich das erste Mal zwischen uns schob, und seinen Vater mit einem einzigen Satz vom Sockel stürzte.
Aus meinem kleinen Jungen war ein Mann geworden.
Auf der Suche nach Liebe und Aufmerksamkeit fand ich das wirkliche Leben. So flüchtete ich wieder in meinen Zauberwald und verirrte mich darin. So ließ ich wieder meinen schwarzhaarigen Helden aufleben. Er gab mir Wärme und ich sehnte mich nach ihm. Ich spürte seine Anwesenheit, ließ mich von ihm berühren und lebte mit ihm in einer anderen Welt. Jede Minute, die ich alleine verbrachte, träumte ich mich weg zu ihm. Er tröstete mich, lobte mich und liebte mich. Wurde es unerträglich, legte ich mich hin und suchte ihn in der Zwischenwelt. Die Wirklichkeit glitt davon und ließ mich in der Geschichte meines zweiten Skarabäus zurück.
Man nennt mich Mahira und ich lebe im alten Perserreich. Ein blaues Licht aus einer kleinen Lampe schimmert vor mir. Nur diese Quelle erhellt das Zelt. An den Wänden hängen prächtige Teppiche, auf dem Boden liegen mehrere Lagen und ich sitze angenehm auf Kissen. Ein niedriger Tisch mit Tee, der meinen Durst stillt und kandierten Früchten, die mich erfreuen, befindet sich neben mir. Alles ist mir fremd, trotzdem fühle ich mich zu Hause. Mein Herr hat mir befohlen, das Licht mit den Augen zu fixieren, bis er zurückkehrt. So habe ich es verstanden, denn er spricht eine Sprache, die nicht die Meine ist.
Vor vielen Tagen hob er mich auf sein Pferd und brachte mich zu seinem Stamm in die Wüste. Ich denke, er ist der Anführer dieser Sippe, denn sie erweisen ihm ihre Ehrerbietung. Sie nennen ihn Arsam. Sein Zelt erzählt von Reichtum, vor allen durch die blaue Farbe, die bei uns selten und teuer ist. Jetzt warte ich, bis er heimkehrt. Ich bin aufgeregt, ängstlich und dennoch weiß ich, dass es so sein soll.
Zuvor lebte ich in einem Land, indem die Menschen in Häusern aus Stein wohnen. Meine Eltern sind mir unbekannt. Ein altes Paar, dem keine eigenen Kinder geschenkt wurden, fand mich und sah mich als ein Geschenk der Götter. Sie kleideten, nährten und liebten mich. Sie ließen mir Lesen und Schreiben beibringen, denn sie waren vermögend. Als ich älter wurde, begann ich Kräuter zu sammeln. Damit heile ich die Kranken. Wenn diese nicht helfen, lege ich meine Hände auf ihre Beschwerden, damit die Götter ihre Kraft fließen lassen und ich Gebrechen wegwischen kann. Woher ich dieses Wissen habe, ist mir nicht bekannt. Es ist tief in meinem Inneren verborgen.
Nach dem Tod der Eltern, den ich heute noch sehr bedaure, bereitete ich ihnen ein würdiges Begräbnis, damit sie zurückfinden, sobald sie dazu bereit sind.
So war es schon immer und so wird es immer wieder sein.
Danach ging ich auf Wanderschaft, um mein Wissen in fremden Ländern zu verbessern. Unterwegs half ich den Kranken, so dass ich nie Hunger leiden musste.
Nach langer Reise traf ich auf ein Kloster in der Wüste, in dem sie mir unglaubliches Wissen beibrachten. Nicht nur in der Heilkunst, sie unterrichteten mich auch in Sternkunde und Philosophie, was mir in der Ausübung meiner Kunst helfen wird. Ihre Weisheit, die ihnen ihr Gott gegeben hat, ist groß. Sie kennen nur einen Gott, was ungewöhnlich ist. Für unsere Anliegen haben wir mehrere Möglichkeiten, um Opfer niederzulegen, denn hilft der eine nicht, wechseln wir den Tempel.
Eines Abends schickten sie mich, Birkenrinde abzuschälen. Diese entfaltet zu einem Sud gekocht eine Kraft, die alle Schmerzen nimmt. Ein seltsames Gefühl hat von mir Besitz ergriffen, denn ich habe die Gabe, Dinge zu erspüren. Ich drehte mich um und da sah ich den Sohn der Wüste. Bewegungslos saß er auf einem Pferd, umgeben vom strahlenden Licht der untergehenden Sonne in seinem Rücken. Er war nicht wie unsere Männer in buntes Tuch gekleidet, sondern in einem blauen Linnen, das er bis über den Kopf gezogen hatte. Die Sonne hinter ihm glühte nicht mehr unbarmherzig, sondern wärmend, so dass er mich wohlig anzog. Ich rannte zu ihm, denn ich wusste, dieser Mann gehört zu mir.
Vor dem Zelt erklingt eine seltsame Musik, die mich aus meinen Gedanken zurückholt. Erst spielt die Musik leise und langsam, dann schneller und lauter. Es war immer dieselbe Melodie, die in ihrer Wiederholung einen Kreis zu erzeugen schien. Je öfter ich sie höre, je schneller sie gespielt wird, umso mehr versetzt sie mich in Trance.
Ich starre, wie es mir mein Herr befohlen hat, in das blaue Licht der Lampe und das Heute verschwindet. In der Hand halte ich einen grünen Jadestein, den er mir geschenkt hat. Er hat die Form eines Käfers. Auf der Rückseite sind merkwürdige Zeichen eingraviert. Eine unbekannte Sehnsucht ergreift von mir Besitz. Die Musik wird lauter, der Kreis dreht schneller und zieht mich in einem Wirbel. Plötzlich Stille. Die Zelttüre wird aufgeschlagen und im Eingang erblicke ich eine Gestalt. Er ist zurückgekehrt.
Dunkle, wunderschöne Augen, umrandet von einem Kajalstrich, fixierten mich. Ein nie gekannter Sturm wirbelt in mir, droht, mich in tausend Stücke zu reißen, und mit ihm kommt die Gewissheit, dass mein Herr meiner Pein Linderung verschaffen wird.
Ich war 40 Jahre alt, als gegenüber Villen mit Garagen gebaut wurden, die der Fläche unseres Erdgeschoßes entsprachen. Neben unseren Häusern sahen sie aus, als hätten sie Wachstumshormone bekommen. Die zukünftigen Nachbarn ernteten bereits Verachtung von Hugo, bevor er mit ihnen Bekanntschaft geschlossen hatte.
Unzählige Bauarbeiter wieselten umher, die ich nicht weiter beachtete. Nur den einen, der vor einem Graben kniete, grüßte ich willenlos.
Er sah hoch, stellte einen Fuß auf, stützte den Arm auf dem Oberschenkel ab und neigte grüßend den Kopf.
Eine Szene aus dem Mittelalter. Ein Ritter, der sich vor seiner Königin verneigt, schoss es mir durch den Kopf.
Ein wenig aus der Fassung gebracht, eilte ich weiter.
Manchmal fühlt man es, wenn zwei Seelen, die füreinander bestimmt sind, sich zum ersten Mal begegnen. Sie spüren es, sobald sie sich einander nähern, ziehen sich an und reichen sich die andere Hälfte.
Die Liebenden, Karte VI der Heldenreise
Die Karte „Die Liebenden“ deutet nicht eine Liebesbeziehung an, sondern den Drang, Beziehungen jeglicher Art zu durchleuchten. Wir erhalten Antriebskraft und lösen Spannungen auf, setzen Schritte, suchen den Weg nach draußen und erfüllen bis dahin unmögliches. Stillstand kommt von uns. Um eine Änderung herbeizuführen, braucht es unsere Umkehr. Wir lernen, selbständig zu handeln. Dabei verlasen wir, was uns bisher vermeintliche Sicherheit gab. Bleiben wir aber stecken, werden wir fortan nur abwägen, aber nie Entscheidungen treffen.
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