Im Auge des Betrachters. Sören Jochim. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sören Jochim
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754143155
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Sterne am Himmel sind deutlich zu erkennen, der Mond ist halb gefüllt und erhellt die Landschaft. Mein Vater steht aufrecht vor mir und zeigt in Richtung eines Hügels, gesprochen wird nicht, alles geschieht mit Zeichensprache. Das Gewehr in seiner Hand verheißt nichts Gutes. Langsam pirschen wir uns vor, nur wir beide sind weit und breit zu sehen. Welchen Auftrag wir haben, weiß ich nicht. Nach einem Drittel des Anstiegs hält mein Vater inne und lauscht. Außer dem Zirpen der zahlreichen Grillen ist nichts zu hören. Wir gehen weiter, die Beine allzeit gebeugt, um das Gewicht besser abzufedern. Ich habe meine Augen meist nach Hinten und zur rechten Seite gerichtet, mein Vater übernimmt die anderen Gebiete. Nach zwei Dritteln des Weges hält er erneut inne. Wieder ist kein unnatürliches Geräusch zu vernehmen. Er deutet mir an, dass wir uns das letzte Stück robbend fortbewegen sollten, um noch unauffälliger zu sein. Wir lassen uns zu Boden und kriechen Meter für Meter näher an die Hügelkuppe. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Auf der rechten Seite, etwas abhängig, ist ein Waldstück zu erkennen, zahlreiche Tannen ragen meterhoch in die Luft und werfen ihre Schatten in unsere Richtung. Sie wirken wie bedrohliche Riesen, die kommen, um uns zu holen und in absolute Schwärze zu verbannen. Hinter uns liegt das Tal, aus dem wir emporgestiegen sind. Ein kleines Dorf ist in der Ferne erkennbar, zwei, drei Laternen erhellen es. Ansonsten relativ kurz geschnittene Wiesen und abgeerntete Felder wohin man blickt, kaum Deckung. Wir haben Glück gehabt, dass wir bislang nicht aufgefallen sind. Ich blicke zu meinem Vater, er schaut konzentriert nach links. In dieser Richtung scheint es nach einem kleinen Tal noch einmal gute 20m höher zu gehen. Auch dort ragen Bäume empor, mehr von diesen furchteinflößenden Tannen. Bewegungen sind nicht auszumachen. Vor uns erstreckt sich zwischen all den Wäldern ein Pfad von links nach rechts, gesäumt von einem kleinen Holzzaun auf beiden Seiten. Eine Sitzbank erlaubt den Blick in unsere Richtung, sie ist leer.

      In der Ferne ragt ein unidentifizierbares Bauwerk ein Stück in die Luft, könnte ein alte Ruine sein oder ein alleinstehendes Haus. Auch meinem Vater ist es aufgefallen. Das werden wir uns genauer ansehen, gibt er mir zu verstehen. Sein Plan ist es, die Dunkelheit der Tannen zu unserer Rechten zu nutzen, wir robben also noch ein kleines Stück weiter in diese Richtung und verschwinden im Schwarz der Schatten. Nachdem wir uns aufgerichtet haben und einige Schritte gegangen sind, werden die Umrisse des Objektes klarer. Es scheint sich um eine kleine Scheune mit einem Speichertank daneben zu handeln. Das Scheunendach verläuft spitz zu und der Tank ragt daneben ein paar Meter höher in den Nachthimmel. Licht brennt keines. Wir setzen unseren Weg fort, müssen gleich aber wieder die Schatten verlassen. Mein Vater stoppt und hält einmal mehr den Zeigefinger vor den Mund. Er lauscht. Ein leichtes Klappern ist zu hören oder ist es mehr ein Quietschen? Dann knackt es plötzlich hinter uns im Wald. Blitzartig drehen wir uns um und werfen uns zu Boden. Der Ast, so meine Vermutung, muss ein gutes Stück im Wald zu Bruch gegangen sein. Es ist wieder ruhig. Dann wieder das Quietschen aus der anderen Richtung, kaum wahrnehmbar. Zeit, sich zu entscheiden, wir können hier nicht ewig verharren. Mein Vater deutet auf die Scheune, wir robben los. Das Quietschen verstummt immer wieder, kommt dann zurück und wird manchmal von einem Klappern gefolgt. Es handelt sich offenbar um eine schwingende Tür oder ein Fenster, das im leichten Wind hin und her schwingt und dann gegen den eigenen Rahmen stößt, ohne zu schließen. An sich ein gutes Zeichen, denn es deutet darauf hin, dass die Scheune verlassen ist. Ich drehe mich um, war das da ein Schatten, der sich bewegt hat oder spielen mir meine Augen einen Streich? Verdammt schwer, irgendetwas in der Dunkelheit der Bäume zu erkennen. Es sind vielleicht noch 50m bis zur Scheune, als ein lauter Knall ertönt. Keine Armlänge neben mir trifft etwas den Boden, das war knapp. Es vergehen keine zwei Sekunden, dann knallt es wieder. Jemand aus dem Wald schießt auf uns. Agil springt mein Vater auf und läuft in möglichst geduckter Haltung Zickzacklinien. Ich tue es ihm gleich und versuche, schnell voran zu kommen. Normalerweise kann man 50m in ein paar Sekunden zurücklegen, doch mir kommt es vor, als würden wir minutenlang versuchen, den Schüssen auszuweichen. Wieder ein Knall, das Holz der Scheune splittert. Mein Vater ist knapp vor mir, ich blicke hinter uns und sehe gleich zwei Funken aufblitzen, die Schüsse werden gefolgt von einem Aufstöhnen. Kurz nur. Dann sinkt mein Vater vor mir zu Boden und ich reiße die Augen auf und erwache.

      Hannes Truggenbrot, Ehemann von Svenja Truggenbrot, Vater von Rolf Truggenbrot, verstorben im Alter von nur 36 Jahren. Damals war ich 12 Jahre alt. Die genauen Umstände des Todes sind bis heute nicht bekannt. Mein Vater war beim Wehrdienst und wurde für einen Einsatz ins Ausland geschickt, ja, in ein Kriegsgebiet, aber laut offizieller Stelle nicht gefährlich. Eigentlich sollte sein Einsatz nur vier Wochen dauern, doch er wurde zweimal verlängert und in der elften Woche erreichte meine Mutter dann die Nachricht. Ein Hauptmann, so erzählt sie immer, stand an einem Novemberabend vor unserer Haustür. Er berichtete, dass Papa in einem nächtlichen Einsatz verschollen sei. Der Funkkontakt sei plötzlich abgebrochen und da nach zehn Tagen keine Spur von ihm auffindbar war und die Gegend dafür bekannt ist, im wahrsten Sinne des Wortes, keine Gefangenen zu machen, schätzten die Offiziere vor Ort die Überlebenschancen auf unter einem Prozent.

      Sie sollten recht behalten, obgleich der Leichnam nie gefunden wurde. Nur wenige Wochen später begannen die Alpträume und dauern bis heute, 32 Jahre später an. Auf Grund meines Berufes als Journalist habe ich viele Quellen angezapft, um mehr Klarheit über die Vorfälle damals zu bekommen, aber gebracht hat es nichts. Immer wieder verlief ich mich in Sackgassen, immer wieder verliefen sich die Spuren im Sand. Bei den Einsätzen sind noch zwei weitere Männer spurlos verschwunden und die damals verantwortlichen Offiziere sind inzwischen alle tot. Einige Dokumente sind wegen Geheimhaltung noch weitere zwanzig Jahre unter Verschluss, andere Dokumente sind zwar zugänglich, aber meist fast durchgehend geschwärzt. Es stinkt alles zum Himmel. Bei meinen Recherchen hatte ich stets das Gefühl, dass die Wahrheit einfach nicht ans Licht kommen soll. Ob die Träume jemals aufhören? Ich bezweifle es.

      Die Nachricht über den vermutlichen Tod meines Vaters traf meine Mutter und mich hart und unerwartet. Ich habe ihn abgöttisch geliebt. Jeden Tag, an den ich mich erinnern kann, zeigte er mir, wie viel ich ihm bedeutete. Er sagte es nicht nur, er zeigte es. In seinen Gesten und in seiner Mimik lag reine Liebe für mich. Er war ein unglaublich guter und geduldiger Lehrer, der mir erklärte, wie die Natur funktioniert, was es mit den Sternen auf sich hat und wieso es Ebbe und Flut gibt. Er regte meine Neugier an und ließ mich alles erforschen, was ich wollte. Meiner Mutter fiel mehr die Rolle zu, mich hier und da in meinen Bestrebungen zu zügeln und zu bremsen. Auch sie wollte natürlich nur das Beste für mich, aber wuchs irgendwie mit der Zeit in diese Rolle hinein. Nach dem Tod konnte sie diese Rolle leider nie wirklich ablegen, blieb die Mahnerin und war übervorsichtig bei allem, was auch nur im Ansatz gefährlich hätte sein können. Dies brachte einen klaren Bruch in unsere Beziehung, weshalb ich mich öfters aus dem Haus schlich, Hauptsache weg von ihr und ihrem Aufsichtswahn. Wozu diese Ausflüge führten, wenn ich dann wieder heimkehrte, kann man sich denken.

      Hilfe im täglichen Leben bekam meine Mutter durch meinen Onkel, der sich verstärkt um die Aufgaben kümmerte, die sonst mein Vater erledigt hatte: Reparaturen, Verwaltungskram und die Gartenarbeit. Er war auch Journalist und ermutigte mich immer wieder, mich auch in dieser Richtung zu betätigen. Ich machte mehrere Praktika bei Zeitungen und schrieb für die Schülerzeitung monatlich mindestens zwei lange Berichte. Recherchieren machte mir Spaß und deckte meine große Neugier zumindest zum Teil ab. Ich fragte meinen Onkel damals, ob er nicht herausfinden könnte, was wirklich passiert sei, aber er antwortete nur, dass ihm die Hände gebunden seien. Damals konnte ich nicht fassen, dass er sich nicht mehr dahinter zu klemmen schien. Er war nicht so gut im Erklären wie mein Vater. Heute weiß ich, was ihn in seinen Recherchen stoppte. Wir haben uns schon oft über das Thema unterhalten. Der Tod von Hannes Truggenbrot bleibt nach wie vor ein Rätsel, Nachforschungen werden große Steine in den Weg gelegt und immer mehr Menschen, die Informationen hätten, versterben. Mit ihnen stirbt auch das Wissen über die Vorfälle. Wer weiß, ob die Wahrheit je ans Licht kommen wird.

      Ich schalte das Licht meiner Nachttischlampe ein und sehe mich um. Die weißen Wände starren mir ausdruckslos entgegen, die ebenso weiße Decke wirkt erdrückend. Außer meinem nussbraunem, viertürigen Kleiderschrank, meinem farblich dazu passendem Nachttisch mit zwei Schubladen, meinem 1,60m breiten Metallbett und meinem viereckigen Bambuswäschekorb ist das Zimmer leer. Der laminierte Boden hat bereits zwei Dellen vom Vormieter und der kleine darauf befindliche grüne Teppich, ein Überbleibsel aus meiner letzten Beziehung, ist fast der