Im Auge des Betrachters. Sören Jochim. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sören Jochim
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754143155
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sein sollen. Wenn man sich das ausrechnet, was das in Zahlen bedeutet, wird einem schwindelig. Ist doch verrückt, dass das nicht besser verteilt wird. “Nur du weißt, was das beste für dich ist - lass dir von andern nichts sagen, kämpf mit harten Bandagen! Niemand weiß, wie erfolgreich du jetzt bist - lass dir von andern nichts sagen, kämpf mit harten Bandagen! Verfolge dein Ziel, denn nur so wirst du reich - lass dir von andern nichts sagen, kämpf mit harten Bandagen! Dreh dich bloß nicht um, denn sonst wirst du zu weich - lass dir von andern nichts sagen, kämpf mit harten Bandagen!” Wer nicht mehr tut als alle anderen, der verliert den Kampf und den Anschluss. Ich stände nicht hier auf der Bühne, wenn ich nicht jeden Tag alles dafür tun würde, besser zu sein als all die anderen Rapper da draußen - all die arroganten Robs, all die abgelenkten Flops. Oh, ich liebe es, wenn sich meine Gedanken reimen, vielleicht sollte ich da auch ein Lied drüber schreiben.

      Die Crowd jedenfalls geht ordentlich mit, das läuft genauso wie erhofft. Harte Bandagen kommt richtig gut an, der Beat ist auch einfach phänomenal, da hat sich Steven selbst übertroffen. Eine Gruppe Männer springt sich mit der Brust voraus gegenseitig entgegen und plustert sich dabei lachend auf. Es ist schön, zu wissen, dass meine Musik solche Wirkung hat, dass sie Menschen aus ihrem Alltag rausreißt und die Welt um sie herum mal für ein paar Minuten vergessen lässt. Und dann beginnt das Spiel von vorn - höher, schneller, weiter, dem anderen immer einen Schritt voraus sein. “Danke schön! Thank you! Ihr seid die Besten!” Noch einmal die Faust in die Luft strecken. Die Lichter verblassen und es geht runter von der Bühne.

      Im abgesperrten Backstagebereich begegnet uns Frank Farell und zwinkert mir zu. “Digga, geile neue Platte, aber hör gut hin, ich werd die Leute noch mehr zum Feiern bringen! Lass uns nachher noch quatschen Digga, ja?” Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Sicher bin ich mir nicht, ob er einen Satz ohne das Wort ‘Digga’ sagen könnte. Schon bemerkenswert wie viel Energie der Kleine hat, reicht mir gerade mal bis zur Schulter und dabei bin ich mit meinen 1,83m ja auch nicht riesengroß. “Klar doch, ich bin noch ein Weilchen hier, lass es krachen da draußen!” Wir haben uns das erste Mal bei einem Benefizkonzert für benachteiligte Jugendliche getroffen und uns auf Anhieb gut verstanden. Wir haben den selben Humor, wie es scheint und können uns herrlich über all die anderen Rapper lustig machen - gerade die ohne vernünftige Karren. Ein bisschen Stil sollte man schon haben.

      In der Nähe der Garderobe wird es von der Lautstärke etwas leiser, so dass Manuel, Steven und ich eine kleine Feedbackrunde machen können. Steven möchte das immer, er liebt eben seine Rituale. “Leute, der Auftritt war mega oder? Habt ihr gemerkt, wie geil der Beat bei Harte Bandagen ankam?”, legt er auch direkt los. “Ja, Steven, das war Gänsehautstimmung, ist dir heute besonders gut gelungen!”, entgegnet Manuel. “Und all die Fäuste! Toll, nach den letzten zwei Monaten mit den kleineren Auftritten und all den Proben, mal wieder so viele Menschen zu begeistern!”, fährt er fort. “War nur viel zu kurz, hätten lieber zwei Künstler weniger sein sollen und dafür noch ein bis zwei Songs mehr.”, werfe ich ein. Steven verdreht die Augen. “Jetzt mach mal halblang und genieß, was wir da auf die Beine gestellt haben. Immer dieser Pessimismus!” Irgendwie hat er ja recht. “War schon cool, ja, nur wie gesagt zu kurz. Ist doch die Wahrheit.” Manuel schaltet sich ein, “Du bist echt nicht leicht zufrieden zu stellen.” Ich schaue ihm in die Augen und antworte, “Doch doch, wenn wir endlich von Platz eins der Charts grüßen, dann bin ich zufrieden!” Dem Gelächter folgt ein Abklatschen und die Entscheidung, dass wir darauf doch erst einmal anstoßen sollten. Gut, dass es Backstage eine eigene kleine Bar gibt, wobei Bar übertrieben ist - es ist mehr ein Tisch, hinter dem ein älterer Mann Mitte 40 ein paar Kisten Bier gestapelt hat und uns drei Flaschen davon reicht. Immerhin besser als draußen anzustehen. Es klirrt, “Auf den nächsten Nummer eins Hit!”

      

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      “Digga!”, tönt es hinter mir, wer das wohl sein könnte. “Hey, Frank, alles klar? Zufrieden mit deinem Auftritt?” Eine Antwort benötige ich bei dem Grinsen in seinem Gesicht eigentlich nicht. “Digga, logisch, hast du die Party verpasst? Ein Song krasser als der andere, Digga!” Ich sag’s ja, kein Satz ohne dieses Wort. “Aber klar doch, konnte mir nicht verkneifen, den ein oder anderen Blick auf deine Fans zu werfen. Hast du die junge Dame links an der Bühne gesehen, mit dem tiefen Ausschnitt? Die hat dich gefeiert! Und war obendrein nicht mal doppelt so groß wie du.” Witze über seine kleine Statur ist er natürlich gewohnt. “Digga, natürlich ist sie mir aufgefallen. Das wäre eine Frau, die mich heut zur Afterparty begleiten dürfte. Vielleicht sehe ich sie ja gleich noch, dann packe ich sie mit ein. Bist du später auch noch da?” Der Veranstalter hatte bekannt gegeben, dass es eine VIP-Afterparty im nächstgelegen Club geben wird - alle Künstler und Bandmitglieder kommen natürlich umsonst rein. Los geht es wohl gegen 23 Uhr, die Karten für alle anderen sind auf 100 beschränkt, also einigermaßen exklusiv. Für mich wäre es kein Problem noch ein, zwei Frauen mitzubringen, das geht immer klar. Die Veranstalter wollen uns Stars nie vergraulen und erfüllen so ziemlich jeden Wunsch. “Du solltest dich auf die Suche machen, sonst springt sie noch mit jemand anderem in die Kiste.”, rate ich ihm, “Ich weiß noch nicht, ob ich später dabei bin, könnte sein, dass Manuel es eher ruhig haben will nach dem Auftritt. Er ist ja schnell mal müde.” Ehrlicherweise hätte ich sagen sollen, dass ich es heute eher ruhig angehen lassen will und die Jungs sicher nichts dagegen hätten, aber ein bisschen Flunkern für ein gutes Bild bei Frank ist schon okay. “Ach was, mit wem denn, Digga? Rob? Dem laufen doch alle weg. Hast du von dem Gerücht gehört, dass er vor kurzem in einer Nacht gleich bei drei Frauen abgeblitzt ist, Digga? Die alle später mit anderen Heim gegangen sind. Haha, der Junge hat nicht nur keinen Geschmack bei Plattenfirmen, er hat auch keinen Stil bei Frauen und trotzdem denkt er, er wäre der Held der Welt, Digga. Crazy!”

      Im Rapgeschäft bleibt fast nichts geheim. Ein Fehltritt macht so schnell die Runde, dass am nächsten Tag quasi die gesamte Szene Bescheid weiß. So viel macht das allerdings nicht aus, es gehört fast zum guten Ton, dass über einen gelästert wird, teils aus Neid, teils aus Langeweile, teils aus Boshaftigkeit und teils einfach aus Humor. Ich wage dennoch zu bezweifeln, dass an all den Geschichten tatsächlich was dran ist - vielleicht an 30 bis 40 Prozent, aber mehr auch nicht. “In der Tat, Zubu Records ist wirklich das letzte Label, gehen über Leichen die Jungs. Wenn die Gerüchte stimmen, haben sie schon mindestens vier Karrieren in diesem Jahr durch ihre Schmutzkampagnen auf dem Gewissen. Ich kann mir echt nicht erklären, wieso Rob nach seinem letzten Erfolg gerade dahin gewechselt ist.” Frank lacht, “Digga, vielleicht wollen die einfach als einzige übrig bleiben, dann schaffen sie es mit ganz viel Glück tatsächlich mal in die Top 20!” In der Tat ist die beste Platzierung eines Songs vom Label Zubu Records Platz 23 und dass, obwohl es das Label schon seit der Übernahme durch diesen Multimillionär vor sieben Jahren mit allen Mitteln versucht, bessere Hits zu landen. Aber keiner der wirklich guten will hin. Mich haben sie vor zwei Jahren gefragt, keine Chance. Ich bin glücklich mit meinen Jungs, manchmal schludern sie etwas, aber das Arbeitsverhältnis ist top, da gibt es nichts zu meckern. Und sie haben schon andere Künstler in die Top 10 vor uns gebracht. Wer einmal Erfolg hatte, der wird ihn auch wiederholen. Nach kurzem Plausch über die letzten Trackideen für Franks neues Album, das im nächsten Jahr erscheinen soll, trennen sich unsere Wege. “Digga”, sagt er zum Abschluss, “überleg’s dir mit der Party! Ich geh mal die hübsche Frau suchen, wir sehen uns später, Digga!”

      So ein Backstagebereich bei einem Festival ist manchmal gar nicht so extravagant, wie sich einige das vorstellen. In erster Linie geht es um Abschirmung von den Fans, damit die Künstler sich in Ruhe vorbereiten und nach dem Auftritt wieder runterfahren können. Viel Mühe hat sich der Veranstalter diesmal aber wirklich nicht gegeben. Es wurden lediglich ein paar Gerüste hochgezogen, große Planen drüber gehangen und das war es dann auch fast schon. “Hoffentlich sieht’s bei der Party später nicht so runtergekommen aus.”, sagt Steven. “Ach, sollen wir da heut echt hin, meinst du das lohnt sich?”, entgegne ich. “Aber klar doch, beim VIP Ausgang warten bereits zwei nette Ladies, die uns begleiten wollen. Ich hab da schon mal was klargemacht.” Steven und ich sind die Singles in unserer Band, beide noch jung und frei. Andere in meinem Alter sind schon verheiratet, klar, aber ich will mich nicht festlegen und Zeit hab ich noch genug. Außerdem war bislang keine dabei,