Im Auge des Betrachters. Sören Jochim. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sören Jochim
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754143155
Скачать книгу
Geschwafel verbringt. Hin und wieder muss man auch Tacheles reden und dann läuft es. Frau von Gesollte kennt diese Art von mir, auch wenn sie nicht immer damit einverstanden ist.

      Ich will mich gerade abwenden und zurück ins Büro gehen, da öffnet sich die Tür von Herrn Russ. “Guten Morgen Herr Frei, wie geht es Ihnen heute?”, eröffnet er das Gespräch. “Guten Morgen Herr Russ, alles bestens bei mir, danke. Haben Sie den Fall Kemper gegen Zeitz verfolgt? Ich habe mich kaputt gelacht!” Beim angesprochenen Fall ging es um einen Arbeitsunfall in einem Schlachtbetrieb, bei dem einer der Mitarbeiter einen Finger verloren hat. Der Fall war eigentlich sonnenklar und doch schaffte es der Angeklagte Kemper, vom Schadenersatz frei gesprochen zu werden. “Ja ein wenig. Dr. Schönberger hatte Herr Zeitz vertreten oder? Hatten Sie nicht gesagt, der Fall sei klar?” Dass der Fall in der Größe überhaupt bekannt wurde, liegt daran, dass der Bruder des Chefredakteurs einer lokalen Zeitung den Schlachtbetrieb leitet und es entsprechend in den Medien vor Ort rumging. “Er war glasklar, der Typ ist schuldig, da gibt es gar keinen Zweifel. Aber wenn man sich eben jemanden so inkompetenten wie Dr. Schönberger ins Boot holt, muss man sich nicht wundern. Der hat seine Hausaufgaben einfach nicht gemacht. Es gab mindestens zwei Zeugen, die hätten aussagen können und beim einen hat er die Glaubwürdigkeit nicht gesichert und den anderen hat er gar nicht erst in den Zeugenstand berufen. Ein wahres Trauerspiel, wenn Sie mich fragen.” Herr Russ schüttelt mit dem Kopf und sagt: “Das war nicht das erste Mal, dass ihm ein sicher geglaubter Fall entgleitet. Erinnern Sie sich an den rausgeschmissenen Mieter damals? Der hatte ja noch Glück, dass er bei der Revision jemand anderen gefunden hat.” Mit jemand anderem meint er mich, aber ich binde es ihm nicht auf die Nase. “Ja, wenn ich im Vorfeld wüsste, dass der Schönberger die andere Seite vertritt, würde ich jeden Fall annehmen, egal, wie aussichtslos er erscheint.” Gelächter von beiden Seiten halt durch das Vorzimmer, nur Frau von Gesollte arbeitet ruhig an ihrem rund geformten Schreibtisch weiter. “Ich werde mal dem Asiaten um die Ecke einen Besuch abstatten, es ist mal wieder Zeit für All-You-Can-Eat und ich habe mächtig Kohldampf.” Mindestens einmal die Woche geht Herr Russ dort essen. Asiatisch ist nicht so meins, außer richtig gut gemachte Sushi mit dem richtig guten Fisch, der allerdings bei einem Buffet nie aufgetischt, sondern stets durch B-Ware ersetzt wird. “Na dann guten Appetit.” Herr Russ verabschiedet sich, wirft seinen schwarzen Mantel über und verlässt den Raum. “Sie sollten mehr lachen Frau von Gesollte, ist gut für die Gesundheit.” Wieder so an argwöhnischer Blick, “Kommen Sie erst mal in mein Alter, dann dürfen Sie mir auch Gesundheitstipps geben.”

      

Image

      Es ist 14 Uhr und damit Zeit für meine nachmittägliche Meditation in der Gartenlaube. Umringt von einer fast zwei Meter hohen Buchsbaumhecke steht eine kleine hölzerne Bank aus Eiche, die Platz für eine Person bittet. Darum verteilt sind viele kleine Pflanzen, die nicht nur optisch durch ihre Farben begeistern, sondern vor allem durch ihren Duft dafür sorgen, dass man den Alltagsstress im Nu vergisst. Die Bank ist gepolstert und kann bei Bedarf mit einer Plane überdacht werden, die an vier dünnen Holzpfählen angebracht ist. Wenn dann der Regen auf die Plane prasselt und die Luft gleich viel frischer riecht, sind das die tollsten Momente. Heute aber ist es trocken, die Sonne kommt hin und wieder mal durch die Wolkendecke hindurch und beglückt einen mit einem Wärmeschwall. Ich nehme einen tiefen Atemzug und verlagere mein Bewusstsein zu den Düften der Blumen. Zur Zeit blühen vor allem zwei Rosensorten: die Alba Maxima, eine weiße Sorte, die sehr robust daherkommt und die leicht rosa-orangene Charles Austin, deren fruchtiger Duft, den der Alba Maxima übertönt. Mit dem Ausatmen des nächsten Atemzuges schließe ich meine Augen und beginne, meine Gedanken zu beobachten. Manchmal nutze ich ein Mantra, um fokussierter zu bleiben, aber jetzt ist mir gerade nicht danach. Stattdessen lasse ich den Gedanken freien Lauf, ohne sie besonders beeinflussen zu wollen. Diese Art der Meditation kann sehr interessant sein, wenn man eine neugierige Grundhaltung einnimmt, was man denn wohl dieses Mal für Gedanken haben wird. Ich finde es immer erstaunlich, wie viele Gedanken einem durch den Kopf schwirren und wie häufig es zu Gedankensprüngen kommt, bei denen man plötzlich völlig andere Themen bearbeitet als noch im Augenblick davor. Nur durch das bewusste Beobachten der Gedanken kann man selbst entscheiden, welchen Gedanken man tiefer folgen möchte. Es ähnelt schon fast einer Kunst, bei der ich mich frage, wieso sie nicht offiziell an Schulen gelehrt wird.

      Der erste Gedanke, der mir deutlich wird, ist der an mein an der Wand hängendes Diplom, was nicht grundlos ist, denn heute vor genau zehn Jahren habe ich es bekommen. Wie die Zeit verfliegt. Ich erinnere mich, an die Zeremonie der Übergabe, wie alle Absolventen in ihren schwarzen Anzügen einer nach dem anderen auf die Bühne der Universitätsaula geholt wurden und an die zwei Gastredner, die von dem Alltag der Arbeitswelt schwärmten. Meine Atmung beruhigt sich mehr und mehr, die Erinnerung verblasst und Ruhe tritt ein. Ein leichtes Plätschern im nicht weit entfernten Teich ist zu vernehmen, vielleicht ein Frosch, der ins Wasser gesprungen ist. In der scheinbaren Ferne, auch wenn es nur wenige Meter sind, fahren Busse, Taxis und andere Autos durch die Straßen, aber im Großen und Ganzen hält sich der Verkehr hier in der Regel in Grenzen, da die meisten Zufahrten nur für Anlieger sind. Das Zentrum der Stadt ist gesetzlich ohnehin autofrei, so dass die großen Parkhäuser alle etwas weiter außerhalb zu finden sind. Meine Gedanken kehren zurück zur Zeremonie und wie ich meinen Eltern in die Augen blicke, stolz auf das Geleistete. Sie applaudieren und doch habe ich den Eindruck, dass es für sie das Selbstverständlichste auf der Welt ist, dass ich mein Diplom nun in den Händen halte. Am Abend setzt sich mein Vater zu mir an den Tisch und sagt: “Junge, jetzt beginnt der Ernst des Lebens, jetzt musst du zeigen, dass du ein Anwalt vom Schlag Frei bist. Enttäusche uns nicht!”

      Die Fußstapfen waren immer schon groß. Während andere Kinder auf Spielplätzen Fußball spielten oder sich die Zeit vor Spielekonsolen vertrieben, gab es bei mir ständig Nachhilfe, denn eine Zwei war eben nicht gut genug. Ich sehe meinen Mathelehrer vor mir, wie er verzweifelt versucht, mir die geometrischen Formeln zur Berechnung von Zylindern und Trapezen zu erläutern. Eine schreckliche Zeit war das! Als ich eine Eins minus in der Arbeit nach Hause brachte, war meine Mutter stinksauer. “Wir bezahlen ein halbes Vermögen für den Nachhilfelehrer”, sagte sie, “und das ist alles?” Danach sah ich ihn nie wieder.

      Ich atme tief ein und langsam wieder aus. Die Erinnerung verblasst und Schwärze und Stille treten an ihre Stelle. Eine tägliche Meditation ist wie eine Kurzkur, eine Kur der Gedanken, ein Aussortieren des Mülls, der sich in der Vergangenheit angesammelt hat. Jeden Tag ein bisschen was rausbringen, das lindert den Stress ungemein. Selbst die großen Firmen haben neuerdings den Nutzen für ihre Mitarbeiter entdeckt, die extra Pausen zur Meditation anbieten, so dass die Angestellten dann viel konzentrierter und effektiver ihrer Arbeit nachgehen.

      “Wenn du mal groß bist, wirst du der beste Anwalt der Stadt sein.”, höre ich meinen Vater sagen. Ich bin vielleicht neun Jahre alt und es ist Weihnachten, was unschwer an den dicken, roten Kerzen, die am Christbaum brennen, dem lila Lametta, das in deren Licht glänzt, und dem großen Stern, an der Spitze, der das Licht der kleinen Flammen spiegelt, zu erkennen ist. Im Hintergrund läuft Weihnachtsmusik und die ganze Familie ist schick gekleidet. Ich habe soeben eines meiner Geschenke ausgepackt und ein Gesetzbuch zum Vorschein gebracht, was mich offenbar etwas irritiert hat schauen lassen, so dass sich mein Vater gezwungen fühlte, das Geschenk zu erklären. Nachdem er mit seinen Erklärungen fertig ist, blicke ich ihn mit großen Augen an: “Toll, Papa, dann werde ich genauso vielen Menschen helfen wie du.” Er entgegnet: “Na, ich hoffe, noch vielen mehr, du wirst ja schließlich noch erfolgreicher als ich. Dafür werden wir alles tun, stimmt’s?” Ich nicke, “Stimmt, Papa!”, und umarme ihn, “Danke!”

      Einige Atemzüge später höre ich, wie Kieselsteine unter der Last von Schritten zur Seite geschoben werden. Ein letzter tiefer Atemzug und ich öffne langsam meine Augen. Sie müssen sich kurz an die Helligkeit gewöhnen, sehen dann aber wieder klar die Farben der Rosen und das dunkle Grün der Hecke. Die Schritte kommen näher. “Thomas, hey, störe ich?”, erklingt es von hinter der Hecke.

      Die raue Stimme ist mir seit 33 Jahren bekannt. In der Grundschule sind Vincent und ich uns das erste Mal begegnet, seine schwarzen Haare trug er damals lang mit Pferdeschwanz, ein für unsere Schule ungewöhnlicher