Ich stand mühsam auf und stakste steif gefroren ein paar Schritte an Claras heran.
„Claras, jeder von uns hat Taten begangen, die er bereut. Der eine schlimmere, der andere weniger schlimme! Aber das ist das Leben mein Freund! Steh jetzt auf, sein dir deiner Taten bewusst und suche einen Weg, um sie auszugleichen. Ich weiß zwar nicht, wie, aber kämpfe darum, mein Freund. Kämpfe und siege.
Dann, wenn die Zeit gekommen ist, steh dir selbst oder einem Gott gegenüber und sage ihm oder dir selber, dass du gekämpft hast und nicht verloren hast. Sag ihm, dass du die Taten, die du begangen hast, verstanden hast und für sie gebüßt hast, indem du ein besserer Mensch geworden bist.“
Claras wendete sich vom Abgrund ab, kam auf mich zu und legte seinen Arm auf meine Schulter.
„Jürgen, ich weiß nicht, ob wir hier sterben. Ich weiß nicht, ob uns ein Gott oder ein höheres Wesen von hier abholt. Aber ich werde nicht durch meine eigene Hand sterben! Wenn es so sein soll, ich bin bereit! Aber bis dahin werde ich kämpfen!“
Dann plötzlich fiel ein riesiger Schneebrocken vom Bergabhang herab, der ca. zwanzig Meter rechts von uns liegen blieb. Wir erschraken kurz und ich drückte fest seinen Arm, bevor ich ihm versicherte:
„Claras, ich bin kein Christ. Aber wir kämpfen uns beide durch diese weiße Hölle. Wo auch immer uns dieser Kampf hinführt!“
Dann gingen wir entschlossen an diesen Bergabhang heran, was uns einige Anstrengung kostete, und blieben bei dem Schneebrocken stehen, der eben noch heruntergesaust war.
Als ich auf den Fels zu meiner Rechten starrte, sah ich einen kleinen Höhleneingang, der ins Innere des Berggipfels führte. Der herabgestürzte Schneebrocken und der Schnee, den er mit sich gerissen hatte, schienen den Eingang freigelegt zu haben. Jedenfalls hatte ich ihn zuvor nicht bemerkt. Aber das spielte auch keine Rolle.
Ich machte den Professor auf den Eingang aufmerksam und zeigte mit dem Finger in die Richtung. Er nickte und gemeinsam gingen wir darauf zu, voller Neugier, was uns dort wohl erwartete.
Als wir endlich die Höhle betraten, waren wir dem ewigen Eis und der kalten Gebirgsluft entkommen. Türkisblaue und weiße Höhlenwände, wie ich noch nie welche gesehen hatte, empfingen uns. Auch die Luft im Berg war wesentlich wärmer als draußen. Wir gingen immer tiefer in den Berg hinein, der unsere Seelen verschlang und bald waren wir in den Tiefen des Berges verschwunden.
Nachdem wir uns eine ganze Weile schweigend und konzentriert vorwärts bewegt hatten, kamen wir plötzlich in eine größere Grotte. Zu meinem Erstaunen musste ich feststellen, dass ich die Gegend kannte.
„Claras, ich kenne diese Gegend!“
Der Professor sah mich an und runzelte die Stirn.
„Claras, als ich in Rosenau bei dieser Pyramide war, bin ich in eine Art Trance gefallen und habe mich bei den Zwergen gesehen, die mir den Stein vermacht haben. Und es sah genauso aus wie hier!“
Der Professor sah sich um und schüttelte den Kopf.
„Ich kann es nicht fassen, aber nach all den Erlebnissen muss ich dir wohl glauben, oder?“
Ich ging an die mir schon bekannte Stelle im Zentrum dieser Grotte und sah mich um. Plötzlich hörte ich eine Stimme, die von den Grottenwänden zurückgeworfen wurde.
„Wir haben dich erwartet, Jürgen!“
Ich zuckte zusammen und drehte mich rasch einmal im Kreis, um festzustellen, wer da mit mir gesprochen hatte, konnte jedoch niemanden sehen. Dann trat überraschend ein älterer Mann hinter einer Steinsäule hervor.
„So lange ist es gar nicht her, mein Freund“, lächelte das mir nur zu gut bekannte Gesicht zu.
„Chalse? Bist du das?“ Ich konnte es nicht fassen.
„Ja mein Freund!“, strahlte mich Chalse Frizker an und trat näher an uns heran. Der Professor kam ebenfalls neugierig näher und starrte ungläubig auf diesen älteren Mann, der in Stofffetzen gekleidet war.
„Chalse? Wo ist mein Sohn Antonio?“, wollte der Professor wissen, doch Frizker winkte ab. „Antonio hat seine Aufgaben!“
Obwohl ich mich freute, ihn zu sehen, war ich dennoch ein wenig verwirrt. Ich hoffte auf eine Erklärung.
„Wo sind wir hier, Chalse? Was sollen wir hier? Wir waren vorhin doch noch in der Halle der Zeit?“
„Ja, aber das hatte ich euch ja gesagt. Die Halle befördert euch genau an den Ort, der in Übereinstimmung mit eurem tiefsten Inneren steht. In eurem Fall war dies nun das eisige Orikongebirge in einer Welt, die ihr noch nicht ganz verstehen könnt!“
Verblüfft sahen der Professor und ich uns an und konnte nicht glauben, was der Graf uns eben erzählte. Wir sollten doch tatsächlich in einer anderen Dimensions- und Zeitlinie sein! Der Graf trat einen Schritt auf den Professor zu und legte ihm wie gewohnt seine Hand auf die rechte Schulter.
„Claras, Antonio bat mich, dir zu sagen, dass du nach Simbola gehen solltest!“
„Was ist Simbola, bitte?“
„Das Zentrum der Nibelungen, mein Freund! Du hattest es schon erblickt. Jedoch in einer parallelen, anderen und dunklen Existenz!“
Der Professor starrte mich fragend an und schüttelte kurz seinen Kopf.
„Was meinst du mit einer anderen und dunklen Existenz?“
„Du hast damals das Land der Nibelungen gesehen, das du sehen wolltest, aber nicht das, was es wirklich ist. Erinnerst du dich?“
Claras überlegte einige Sekunden, ließ seinen Blick schweifen und erwiderte:
„Ja ich erinnere mich. Technologien! Dexer sah sie ebenfalls, nicht wahr? Nur, was meinst du mit Nibelungen?“
„Genau, Claras. Dexer sah sie ebenfalls! Was die Nibelungen angeht, da ist die Erklärung etwas schwieriger. Ihr werdet eure Antworten darauf zu gegebener Zeit finden.“
Offenbar kamen wir mit den Nibelungen nicht weiter, also unterbrach ich die beiden und bedrängte den Grafen stattdessen mit anderen Fragen, in der Hoffnung, wenigstens auf andere Dinge ein paar rasche Antworten zu finden.
„Diese Grotte, Chalse, warum diese Grotte? Ich habe hier den schwarz-violetten Stein von einem Zwerg erhalten.“
Der Graf schmunzelte auf die ihm so eigene Art und Weise und erklärte mir dann ausführlich die Zusammenhänge zwischen der Grotte und den Zwergen.
Er erklärte mir, dass diese Grotte, in der wir uns momentan befanden, die Grotte der Schätze genannt wird. Zwerge, Kobolde und manch andere Wesenheiten leben hier in dieser Grotte in einer Art Parallelexistenz der Welt, wie wir sie kennen. Sie beschützen die inneren Eingänge zu diesem Nibelungenland und geben den Menschen eine Art Zutrittskarte zu diesem Reich.
Nicht immer jedoch passieren die Menschen diese oder andere Grotten, wie zum Beispiel auch am Untersberg, dem Herzchakra der Welt. Manchmal gehen sie nämlich direkt in die dunkle Welt der Nibelungen und der hoch entwickelten Technologien jener Welt, die auch Claras und Dexer gesehen hatten – in die Welt, die den Namen Nibelungen trägt. Ich sah den Grafen erstaunt an.
„War auch die Geisterhöhle ein Zugang zu solch einer Grotte?“
„Ja, das war und ist sie! Nur der Zugang wird nicht jedem geöffnet!“
Ich erinnerte mich an den beweglichen Felsen bei der Grasslhöhle und nickte verständnisvoll, aber mit weiteren einhundert Fragen im Hinterkopf.
„Jürgen, du wirst all deine Antworten bald finden! Das verspreche ich dir! Ihr habt damals einen Weg eingeschlagen, den ihr nun weitergehen müsst. Ihr habt hier und jetzt die Wahl! Die Wahl, eure Entscheidung zu fällen. Doch bedenkt eines: Der Strahl zur schwarzen Sonne wurde durch euch aktiviert, hierzu wurdet ihr sowie auch andere auf der ganzen Welt bestimmt. Es ist jedoch noch nicht vollendet, nein, denn die Höllentore wurden noch