Die Schicksalsschläge in ihrer Familie und die Gewißheit, in jenem großen Wirrwarr von Menschen, Interessen und Geschäften, das Paris ebenso zu einer Hölle wie zu einem Paradiese gestaltet, nur eine Null zu sein, machten Lisbeth zahm. Die unverheiratet Gebliebene verlor alle Lust, um Gleichberechtigung mit ihrer Kusine zu kämpfen, hatte sie doch deren Überlegenheit in verschiedentlichster Hinsicht gespürt. Aber im Grunde ihres Herzens lauerte auch weiterhin der Neid gleichwie ein Pestbazillus, der jeden Augenblick wirken und eine ganze Stadt verwüsten kann, wenn man den verhängnisvollen Wollballen öffnet, in dem er nistet. Von Zeit zu Zeit sagte sie sich: Adeline und ich, wir sind Blutsverwandte; unsere Väter waren Brüder. Sie wohnt in einem Palast und ich in einem Dachstübchen!
Alljährlich erhielt Tante Lisbeth zu ihrem Namenstage und zum Neujahrsfest von der Baronin und dem Baron Geschenke. Der Baron bezahlte ihr auch gnädigst das Brennholz für den Winter. Der alte General Hulot empfing sie regelmäßig einmal in der Woche zu Tisch, und im Hause ihrer Kusine lag stets für sie ein Gedeck bereit. Man machte sich oftmals über sie lustig, niemals aber schämte man sich ihrer. So lebte sie schließlich in Paris leidlich selbständig und nach ihrer Weise.
Lisbeth fürchtete jedwedes Joch. Wenn die Kusine ihr anbot, bei ihr im Hause zu wohnen, fühlte sie sich sofort geknechtet. Verschiedene Male wäre dem Baron die schwierige Aufgabe, sie zu verheiraten, doch noch geglückt. Zunächst ließ sie sich jedesmal bestechen; doch bald schlug sie die Bewerbung aus, weil sie vor dem Gedanken zurückschauderte, man könne ihr alsbald ihre mangelhafte Erziehung, ihre Unwissenheit und ihre Vermögenslosigkeit vorwerfen. Selbst den Vorschlag der Baronin, bei ihrem Onkel zu leben und ihm an Stelle einer sehr kostspieligen Hausdame die Wirtschaft zu führen, lehnte sie ab. Sie begründete das damit, daß sie sich dann gleich gar nicht verheiraten werde.
In ihren Ideen zeigte Tante Lisbeth gewisse Sonderlichkeiten, die man bei allen spät entwickelten Naturen beobachtet, auch bei einsamen Menschen, die viel denken und wenig sprechen. Ihr Bauernverstand hatte übrigens durch die Unterhaltungen in den Werkstätten und durch den Umgang mit den Handarbeitern und Arbeiterinnen pariserische Schärfe bekommen. Ihr Charakter hatte ungemein viel Korsisches an sich; ihr starker Betätigungsdrang sehnte sich nach Befriedigung. Und so hätte sie sich am liebsten zur Beschützerin eines schwächlichen Mannes gemacht. Gebunden an die Großstadt, unterlag ihr äußeres Leben ihren Einflüssen. Ihre mürbe gewordene Seele nahm den matten Pariser Glanz an. Stark empfindlich wie alle wirklich Ehelosen wäre sie wegen ihrer Verbissenheit in jeder andern Stellung zu fürchten gewesen; böse, wie sie war, hätte sie den festesten Familienkreis zerstört.
Während der ersten Zeit, als sie noch gewisse Aussichten hatte, in die sie jedoch niemanden einweihte, hatte sie sich dazu verstanden, modische Kleider und Korsetts zu tragen. Damals erlebte sie eine kurze Zeit des Glanzes, während der man ihre Verheiratung für möglich hielt. Lisbeth war da die pikante Brünette aus dem alten französischen Roman. Ihre lebhaften Augen, ihr olivenfarbener Teint, ihr straffer Körper hätten wohl einen älteren Beamten oder Pensionär reizen können; aber sie begnügte sich damit, wie sie lächelnd zu sagen pflegte, sich selber zu bewundern. Im Grunde war sie mit ihrem Leben auch ganz leidlich zufrieden. Wirtschaftliche Sorgen hatte sie keine mehr, und wenn sie auch mit Tagesanbruch zu arbeiten anfing, so ging sie doch regelmäßig zur Hauptmahlzeit in die Stadt. Sie hatte nur für das Frühstück und ihre Miete zu sorgen. Im übrigen versah man sie sowohl mit Kleidern als auch mit allen möglichen Vorräten wie Zucker, Kaffee, Wein und dergleichen.
Im Jahre 1837, nachdem sie siebenunundzwanzig Jahre zur Hälfte von der Gnade der Familie Hulot und ihres Onkels Fischer gelebt hatte, verzichtete Tante Lisbeth darauf, irgend etwas vorzustellen. Sie ließ sich nunmehr sehr leicht behandeln. Zu den großen Gesellschaften kam sie von selber nicht; sie zog die trauliche Geselligkeit vor, die ihr gestattete, zur Geltung zu kommen, und ihr Kränkungen der Eigenliebe ersparte. Überall gehörte sie zum Hause: beim General Hulot, bei Crevel, bei den jungen Hulots, bei Rivet, Pons' Nachfolger, mit dem sie sich wieder versöhnt hatte und von dem sie verwöhnt wurde, sowie bei der Baronin. Auch wußte sie sich überall bei den Dienstboten beliebt zu machen, indem sie ihnen von Zeit zu Zeit ein kleines Trinkgeld in die Hand drückte und immer ein Weilchen mit ihnen plauderte, ehe sie in die Zimmer trat. Diese Vertraulichkeit, durch die sie sich mit diesen Leuten auf eine Stufe stellte, verschaffte ihr deren Gewogenheit und Dienstbarkeit, etwas sehr Wichtiges für Schmarotzer, und das war sie doch nun einmal. »Sie ist eine alte gute Haut!« hieß es ganz allgemein. Ihre, besonders da, wo man sie gar nicht beanspruchte, oft grenzenlose Gefälligkeit war ebenso wie ihre scheinbare Gutmütigkeit eine natürliche Folge ihrer abhängigen Stellung. Kurzum, sie fand sich mit dem Leben ab, da sie sah, daß sie doch von aller Welt abhing. Sie hielt es mit allen. Mit den jungen Leuten war sie vergnügt; man fand sie nett und fiel allgemein auf ihre schmeichlerische Art hinein. Sie erriet und förderte alle Wünsche; sie machte sich zur Vermittlerin und spielte überall die gute Helferin. Ein Recht, selber etwas zu wollen, hatte sie ja nicht. Ihre unbedingte Verschwiegenheit schaffte ihr auch das Vertrauen von Menschen reiferen Alters; sie besaß nämlich gewisse männliche Eigenschaften. Meistenteils richten sich die Vertraulichkeiten des Menschen eher nach unten als nach oben. In geheimen Angelegenheiten werden Tieferstehende viel öfter zu Vertrauten erwählt als Höherstehende; sie werden zu Mitwissern unserer geheimsten Gedanken und zu Ratgebern bei unsern wichtigsten Überlegungen. Die arme alte Jungfer galt für so abhängig von aller Welt, daß sie wie zu ewiger Stummheit verdammt schien. Sie nannte sich selbst den »Beichtstuhl der Familie«. Nur die Baronin blieb mißtrauisch. Sie konnte gewisse Schlechtigkeiten nicht vergessen, die ihr die Kusine in der gemeinsamen Kinderzeit angetan hatte. Auch aus Schamhaftigkeit mochte Adeline ihren häuslichen Kummer nur Gott allein anvertrauen.
Für Tante Lisbeth hatte das Haus der Baronin seinen alten Glanz bewahrt. Sie stutzte nicht, wie der emporgekommene Crevel, vor dem Elend, das auf den abgenutzten Stuhlpolstern, auf den altersschwachen Vorhängen und der zerschlissenen Seide deutlich geschrieben stand. Es geht einem mit den Möbeln, mit denen man lebt, gerade wie mit einem selbst. Man macht es schließlich wie der Baron. Man schaut sich täglich an und hält sich für ewig jung und unverändert, während die andern längst bemerken, wie sich auf unserem Haupte das Haar chinchillaartig verfärbt, wie sich auf unserer Stirn die Krähenfüße mehren und unser Schmerbauch dick wird wie ein Kürbis. Die Hulotsche Einrichtung leuchtete für Lisbeth für immerdar im bengalischen Feuer der kaiserlichen Glorie.
Mit der Zeit hatte Tante Lisbeth mancherlei recht altjüngferliche Gewohnheiten angenommen. So wollte sie sich der Mode nicht unterwerfen, sondern meinte, die Mode müsse sich nach ihren Angewohnheiten und ihrem veralteten Geschmack richten. Wenn ihr die Baronin einen hübschen neuen Hut oder ein Kleid neueren Schnitts schenkte, so hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als alles nach ihrer Art bei sich zu Hause umzuarbeiten; so verdarb sie jedes Kleid, indem sie daraus ein Kostüm aus der Kaiserzeit oder ein Stück altlothringischer Landestracht modelte. Hüte, die dreißig Franken gekostet hatten, wurden unter ihrer Hand zu Ungetümen. In dieser Beziehung war Lisbeth geradezu bockbeinig. Nur sich selbst gefallen wollte sie, und sie fand sich wirklich reizend. Diese Manie, alles ihrer Altjüngferlichkeit anzupassen, so einheitlich es auch durchgeführt sein mochte, machte sie so lächerlich, daß man es beim besten Willen nicht fertigbrachte, sie zu größeren Festlichkeiten einzuladen.
Der Widerspruchsgeist, das launenhafte eigenbrötlerische Wesen und die wunderliche Wildheit dieses Mädchens, das dank der Vorsorge des Barons viermal eine gute Partie hätte machen können – es traten nacheinander einer seiner Verwaltungsbeamten, ein Major, ein Geschäftsunternehmer und ein Hauptmann a. D. als Bewerber auf –, und das auch einem Posamentenhändler einen Korb gegeben hatte, der dann sehr reich wurde, gaben die Veranlassung zu dem Spitznamen »Wildkatze«, den ihr der Baron im Scherz anhängte. Dieser Spitzname sollte sich zwar nur auf Lisbeths äußerliche Eigenheiten beziehen, aber dieses Mädchen war und blieb für den schärferen Beobachter doch die Verkörperung der bäuerischen Wildheit. Wie sie als Kind der Kusine die Nase hatte abbeißen wollen, so hätte die Gealterte in Anfällen von Eifersucht