Daß das alte Häuserviertel längs des Louvre noch immer besteht, ist einer der Widersprüche gegen den gesunden Menschenverstand, die sich die Franzosen so gerne leisten, damit sich Europa zu seiner Beruhigung überzeugen kann, daß der Fortschritt nicht so schlimm ist, wie er aussieht. Vielleicht verfolgt man damit unbewußt eine große politische Idee. Sicherlich ist es aber keine überflüssige Arbeit, diesen Winkel des modernen Paris zu beschreiben; denn später wird man sich so etwas gar nicht mehr vorstellen können. Unsere Enkel, die zweifellos das Louvre vollendet sehen, werden nicht glauben wollen, daß es so lange in der schändlichsten Umgebung gestanden hat, im Herzen von Paris, dieser Palast, in dem drei Dynastien in einem Zeiträume von sechsunddreißig Jahren die Blüte Frankreichs und Europas empfangen haben.
Von dem Portal aus, das nach dem Pont du Carrousel und der Rue de Musée führt, fällt einem ein Dutzend Häuser mit zerfallenen Vorderseiten auf, die von den unbekümmerten Besitzern nicht mehr ausgebessert werden. Man steht vor den Überbleibseln eines alten Viertels, das zerstört wurde, als Napoleon den Plan faßte, das Louvre zu vollenden. Die Rue du Doyenné mit ihrer Sackgasse dringt einzig und allein in dieses düstere und einsame Häuserviertel ein, dessen Bewohner einem wie Gespenster vorkommen; denn eigentlich sieht man dort keinen Menschen. Das Pflaster, viel tiefer als das der Rue du Musée, liegt ungefähr in einer Höhe mit dem der Rue Froidmanteau. Schon durch die Erhöhung des Platzes erscheinen diese Häuser wie verschüttet; dazu kommt noch, daß sie von dem undurchdringlichen Schatten umhüllt sind, den die hohen, an dieser Seite vom Nordwind geschwärzten Galerien des Louvre werfen. Dunkelheit, Stille, eiskalte Luft und die Kellertiefe machen diese Häuser gewissermaßen zu Grüften, zu lebendigen Gräbern. Wenn man im Wagen an diesem toten Viertel entlangfährt, gruselt es einen, und man fragt sich, wer wohl da wohnen könne und wer am Abend hier zu gehen wage, zu der Zeit, wo sich dies Gäßchen in eine Räuberhöhle verwandelt, wo alle Laster von Paris unter dem Deckmantel der Nacht aufwachen. Dieser an sich schon beunruhigende Gedanke beängstigt einen geradezu, wenn man sieht, daß diese sogenannten Häuser nach der Rue de Richelieu hin an lange Moräste grenzen, nach der Tuilerienstraße an ein wahres Meer von Pflastersteinhaufen, nach den Galerien an kleine Gärten und unheimliche Baracken und nach der Seite des alten Louvre an Felder von Abbruchsteinen. Heinrich III. und seine Lieblinge, die ihre Hosen, und Königin Margaretes Liebhaber, die ihre Köpfe suchen, mögen bei Mondenschein ihre Menuetts tanzen in diesen Wüsteneien, die überragt werden von der Kuppel einer alten Kapelle, die noch dort steht, als wolle sie beweisen, daß der in Frankreich nimmermüde Katholizismus alles überdauert. Seit fast vierzig Jahren schreit das Louvre aus all den aufgerissenen Mäulern dieser geborstenen Mauern, aus all diesen gähnenden Fensterhöhlen: »Entfernt diese Schandflecke aus meinem Gesichtskreis!« Zweifellos sieht man aber in dieser Mördergrube eine Art Symbol und hält es für nützlich, damit im Herzen von Paris die nahe Verwandtschaft von Elend und Glanz, die Merkmale dieser Königin der Weltstädte, zu zeigen. Und wer weiß, ob diese kahlen Ruinen, diese verruchten Baracken der Rue du Musée mit ihren Reihen von Holzbuden nicht ein längeres und glücklicheres Dasein haben als die drei Herrscherhäuser.
Seit 1823 war der Mietzins in diesen dem Verfall geweihten Häusern sehr niedrig, was Tante Lisbeth bewogen hatte, dort zu mieten, obwohl sie sich beim Anblick des Viertels sofort sagte, daß man hier nach Einbruch der Nacht nicht mehr außer dem Hause weilen dürfe. Diese Notwendigkeit paßte übrigens zu ihrer ländlichen Gewohnheit, der sie treu geblieben war: mit der Sonne aufzustehen und mit den Hühnern schlafen zu gehen; man spart damit beträchtlich an Licht und Heizung. Lisbeth bewohnte also eins jener Häuser, denen die Niederlegung des berühmten Hauses, in dem Cambacérès gewohnt, die freie Aussicht über den Platz verschaffte.
In dem Augenblick, als sich der Baron an der Tür dieses Hauses von Lisbeth mit den Worten verabschiedete: »Auf Wiedersehen, Tante Lisbeth!«, ging eine junge Frau an der Droschke vorbei, um gleichfalls das Haus zu betreten. Sie war klein, schlank, hübsch, sehr elegant gekleidet und duftete nach einem erlesenen Parfüm. Ohne etwas anderes damit zu bezwecken, als sich den Verwandten ihrer Nachbarin anzusehen, wechselte diese Dame einen Blick mit dem Baron; aber den alten Lebemann durchzuckte es dabei lebhaft wie alle Pariser, wenn sie einer jungen Frau begegnen, die, wie der Fachmann sich ausdrückt, ihren Geschmack verkörpert. Ehe er wieder in den Wagen stieg, zog er langsam und bedächtig einen seiner Handschuhe an, um sein Zögern zu begründen und der jungen Frau mit den Blicken folgen zu können. Ihr Kleid verriet gefällige Formen und nicht nur die abscheulichen betrügerischen Krinolinenunterröcke.
Das ist ja eine reizende kleine Frau! sagte er sich. Mit der wäre man glücklich.
Als nun die Unbekannte im Hausflur die Wendung zur Treppe machte, spähte sie nochmals nach dem Baron, wobei sie sich ja nicht umzudrehen brauchte. Da sah sie, daß der Baron, starr vor Bewunderung und von Begehrlichkeit und Neugier gepackt, noch am selben Platze stand. Bewunderung ist eine Blume, deren Duft alle Pariserinnen mit Wonne einatmen, wenn sie sie an ihrem Wege finden. Sogar pflichttreue und tugendsame hübsche Frauen kommen ziemlich verdrießlich heim, wenn sie auf ihrem Spaziergange nicht ihr kleines Sträußchen Bewunderung gepflückt haben.
Schnell stieg die junge Frau die Treppe hinauf. Bald darauf wurde im zweiten Stock ein Fenster geöffnet, an dem sie erschien, aber in Gesellschaft eines Herrn, dessen kahler Schädel und ein klein wenig grimmiger Blick den Ehemann verrieten.
Wie schlau und klug! dachte der Baron. Auf diese Weise zeigt sie mir, wo sie wohnt. Nur ein bißchen zuviel Tempo! Und dann dies Viertel hier! Also Vorsicht!
Der Rat hob den Kopf, als er in die Droschke gestiegen war, und im Nu zogen sich Mann und Frau zurück, als habe das Gesicht des Barons die sagenhafte Wirkung des Medusenhauptes auf sie ausgeübt.
Fast möchte man glauben, sie kennen mich, dachte der Baron. Dann wäre ja alles klar.
Und wirklich, als der Wagen wieder der Rue du Musée zufuhr und Hulot sich noch einmal nach der Unbekannten umwandte, sah er, daß sie wieder am Fenster stand. Sich schämend, dabei ertappt worden zu sein, daß sie ihrem Anbeter nachschaute, fuhr die junge Frau rasch zurück.
Durch die Wildkatze werde ich erfahren, wer sie ist, dachte der Baron.
Der Anblick des Staatsrates hatte einen tiefen Eindruck auf das Ehepaar gemacht.
»Aber das ist ja der Baron Hulot, der Vorstand meiner Abteilung!« rief der Mann und trat von der Fensterbrüstung zurück.
»Und denke dir, Paul, die alte Jungfer, die im dritten Stock nach dem Hof hinaus wohnt und mit dem jungen Menschen zusammenlebt, die muß eine nahe Verwandte von ihm sein! Wie sonderbar, daß wir das erst heute und so zufällig erfahren!«
»Fräulein Fischer lebt mit einem jungen Menschen zusammen?« rief der Beamte. »Ach was, das ist Altweiberklatsch! Wir wollen nicht so leichthin von der Verwandten eines Staatsrates sprechen, von dem im Ministerium Regen und Sonnenschein abhängt. Komm! Essen wir! Ich warte seit vier Stunden auf dich!«
Die sehr hübsche Frau Marneffe, eine uneheliche Tochter des Grafen Montcornet, eines der gefeiertsten napoleonischen Offiziere, hatte man mit einer Mitgift von zwanzigtausend Francs an einen unteren Beamten im Kriegsministerium verheiratet. Durch den Einfluß des berühmten Generals, der während der letzten sechs Monate seines Lebens Marschall von Frankreich gewesen, war diese Schreiberseele ganz unverhofft in die Stelle eines Kanzleiassistenten aufgerückt. Aber gerade als er Kanzleisekretär werden sollte, hatte der Tod des Marschalls den Hoffnungen des Ehepaares ein Ende bereitet. Die Kärglichkeit ihres Einkommens zwang das Ehepaar Marneffe, an der Miete zu sparen; denn die Mitgift von Fräulein Valerie Fortin war draufgegangen, teils um Marneffes Schulden zu bezahlen, teils durch die nötigen Anschaffungen bei der Errichtung ihres Heims, besonders aber durch die Bedürfnisse der hübschen Frau, die bei ihrer Mutter an Genüsse gewöhnt worden war, auf die sie nicht mehr verzichten wollte. Die Lage der Rue du Doyenné, nahe dem Kriegsministerium und der City von Paris, gefiel Herrn und Frau Marneffe, die nun seit ungefähr vier Jahren mit Fräulein Fischer in einem Hause wohnten.
Jean Paul Marneffe