Tom kannte diese Erklärungen inzwischen zur Genüge, darum hörte er gar nicht richtig hin. Gelangweilt schaute er sich die vielen Bürotüren an und versuchte zu begreifen, warum hier eigentlich niemand arbeitete. Gerade wollte er Uxbridge danach fragen, als ihm an der nächsten Korridorkreuzung eine Bewegung auffiel. Ein Schatten, der zur Seite huschte – er sah ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde. Tom blieb stehen und schaute genauer hin, doch der Korridor war leer. Wohl nur eine Einbildung, vielleicht auch nur ihr eigener Schatten, von der Deckenbeleuchtung in eine andere Richtung geworfen. Er zuckte mit der Schulter und ging weiter. Ein paar Schritte weiter überlief ihn Gänsehaut. Seit er die Bewegung wahrgenommen hatte, schien es immer kühler zu werden. Mit einem Mal hatte er das unangenehme Gefühl, als würde ihn jemand beobachten. Er fuhr herum, und da sah er ihn, hoch aufragend, fast bis zur Decke des Korridors, schwarz gekleidet wie der leibhaftige Tod: der Schattenkönig. Seine fahlen Augen leuchteten unter der Kapuze hervor, und ein Teil seines Kinns war zu sehen, die dunkelgraue Haut erschien Tom wie uraltes, vertrocknetes Leder, über die Knochen gespannt.
»Veyron! Er ist hier!«, schrie Tom und fasste sich an den Gürtel. Das Daring-Schwert war nach ihrem Sturz in den Paddington-Branch verschwunden, doch Tom spürte die unsichtbare Präsenz an seiner Hüfte. Er brauchte nur zuzugreifen, und es wäre es wieder da.
Alle fuhren herum, doch da war der Schattenkönig auch schon wieder verschwunden, eingetaucht in den Schatten der gegenüberliegenden Wand. Als wäre er nie da gewesen.
»Bist du sicher, dass es keine Einbildung war?«, fragte Veyron.
Tom nickte aufgeregt. »Er stand genau da. Er hat uns gefunden!«
»Das war zu erwarten. Der Schattenkönig kann nicht durch feste Wände teleportieren, aber sehr wohl durch Glas. Und davon gibt es in diesem Gebäude mehr als genug«, sagte Veyron. »Wo ist dieser Aufzug?«
Uxbridge deutete vage voraus. Er wirkte sehr verunsichert.
Ohne zu zögern, rannten Veyron und Tom los, gefolgt von Hunter und Darrow.
»Moment, Moment, Moment! Ich wusste ja nicht, dass Sie es so eilig haben«, rief ihnen Uxbridge hinterher und beeilte sich, zu ihnen aufzuschließen.
Als sie die Aufzugtür erreichten, materialisierte der Schattenkönig vor ihnen am Ende des Korridors, wo es am dunkelsten war. Finster starrte er in ihre Richtung, doch er rührte sich nicht, stand einfach nur da und beobachtete sie. Jetzt sahen ihn auch Uxbridge und die anderen.
»Heilige Muttergottes, was ist das?«, keuchte der Manager der Ramer-Stiftung. Er zitterte so sehr, dass er kaum die Schlüssel für den Lift aus seiner Hosentasche bekam.
Der Schattenkönig neigte ein wenig den Kopf und flüsterte unverständliche Worte. Es wurde immer kälter; Toms Nackenhaare stellten sich auf. Dunkler Zauber lag in der Luft.
Anstatt den Schlüssel in das Türschloss zu stecken, drehte sich Uxbridge um und streckte die Hand in Richtung des Schattenkönigs aus. Da erkannte Tom, dass Uxbridge verhext sein musste. Er war nicht mehr Herr seiner Sinne; der Schattenkönig befahl über seinen Körper. Auch Tom vermochte sich nicht von der Stelle zu rühren, ebenso wenig Veyron oder Hunter. Allein auf Danny Darrow schien die Magie des Schattenkönigs nicht zu wirken. Keuchend trat er einen Schritt vor, entwand Uxbridge den Schlüssel und sperrte den Lift auf.
Im gleichen Augenblick fiel der Lähmungszauber von ihnen allen ab. So schnell sie konnten, drängten sie in die Fahrstuhlkabine. Der Schattenkönig schien einen kurzen Moment überrascht, doch dann griff er an. Mit langen Schritten hielt er auf sie zu. In seiner Rechten manifestierte sich wie aus dem Nichts sein Schwert, eine lange, zweischneidige Klinge mit vielen Scharten und schwarz wie die Nacht. Die Lifttüren schoben sich endlich zu; für Toms Geschmack viel zu langsam. Der Schattenkönig war fast da – schon holte er zum Hieb aus. Tom schloss die Augen.
Endlich rauschte die Kabine in die Tiefe.
Uxbridge hatte Mühe mit der Atmung, er keuchte entsetzlich und schlotterte am ganzen Körper. Auch Hunter war leichenblass, und Tom war entsetzlich kalt. Er rieb sich die Arme, ohne dass er dadurch das Gefühl des Grauens abzuschütteln vermochte. Nur Veyron und Danny schienen keine Nachwirkungen dieser Begegnung davongetragen zu haben – wobei sich sein Pate vielleicht auch einfach nur nichts anmerken ließ.
»Die Lage ist ernst«, sagte Veyron überflüssigerweise. »Sehr ernst sogar, wenn sich der Schattenkönig am helllichten Tage mitten in einem Gebäude zeigt, in dem Hunderte Menschen arbeiten.«
»Wie macht er das, dieses plötzliche Auftauchen?«, wollte Danny wissen.
»Er teleportiert. Es ist ein uralter, dunkler Zauber. Zum Glück sind ihm ein paar Grenzen auferlegt. Er kann nur in der Luft teleportieren, nicht durch feste Materie hindurch und auch nicht durch Wasser. Sehr wohl jedoch durch Glas oder andere durchlässige Materialien. Er scheint dabei allerdings auf Schatten angewiesen zu sein, ein Teil seines Zaubers. Die Absenkung der unmittelbaren Umgebungstemperatur gehört ebenfalls dazu, und das haben wir eben wohl alle gespürt. Ich erzählte bereits, dass ich schon einmal mit diesem Dämon zu tun hatte. Wir dürfen ihn keinesfalls unterschätzen und uns unter gar keinen Umständen auf einen Kampf mit ihm einlassen«, erklärte Veyron finster.
Tom bemerkte den verbissenen Gesichtsausdruck seines Paten, als müsste der mühsam um Kontrolle ringen. Das hatte es noch nie gegeben: Veyron Swift fürchtete sich vor einem Gegner. Toms Sorge wuchs. Hatten sie es diesmal vielleicht mit jemandem zu tun, der ihnen haushoch überlegen war? Die Wände des Fahrstuhls kamen ihm auf einmal wie ein Gefängnis vor, er glaubte zu ersticken. Fast hätte er geschrien: ›Ich will raus! Raus aus dem Lift und aus dieser Sache!‹
Doch dann dachte er an Jane, wie sie im künstlichen Koma auf dem Krankenbett lag, hilflos, während ihr Körper gegen ein tödliches Gift rang. Nein, sie hatten keine Wahl, als dem Schattenkönig zu trotzen, und durften sich dabei nicht ihrer Furcht ergeben. Wie sagte Veyron immer? ›Gefühle dürfen dein Tun nicht beeinflussen.‹ Tom war felsenfest entschlossen, sich das zu eigen zu machen.
»Mein Koffer! Ich hab meinen Koffer vergessen«, rief Hunter plötzlich.
Veyron schmunzelte. »Keine Sorge«, sagte er. »In Elderwelt werden Ihnen weder Ihre Funkpeilsender noch die Abhörgeräte, geschweige denn die Waffen und die ganzen anderen Spionagesachen weiterhelfen. Ersatzkleidung erhalten wir sicher auch so.«
Hunter verzog missbilligend das Gesicht, weil Veyron den Inhalt ihres Köfferchens offensichtlich genau aufzulisten wusste. Tom hingegen war einigermaßen erleichtert und – zugegeben – auch ein wenig schadenfroh.
Der Lift hielt an, und die Tür schob sich leise zischend zur Seite. Kein Vergleich zu den noblen, hellen Korridoren der Obergeschosse – sie standen vor der Mündung eines dunklen, halbrunden Tunnels. Tom sah im Schein der Fahrstuhlbeleuchtung stählerne Schienen am Boden schimmern.
»Wir sind im Netz der Underground gelandet«, glaubte er zu erkennen.
Uxbridge, der sich inzwischen wieder etwas gefangen hatte, wusste