„Ja, das trifft meine eigene Einschätzung. Wir haben alle einmal klein und unerfahren angefangen und wir haben alle einen Mentor, zu dem wir aufblicken.“
Ich habe meinen Mentor verloren… „Deshalb hat er ja auch meine volle Unterstützung. Und Taylor ist ein seltsamer Kauz.“
Adrian lachte. „Das haben die Leute aus dem Norden doch so an sich.“
„Ich dachte, das zählt nur für Boston“, scherzte Hope. „Nein, im Ernst. Ich kann ihn nicht einschätzen und das macht mich unsicher ihm gegenüber.“
„Ich weiß, was du meinst. Er wirkt ein wenig undurchsichtig und grimmig. Aber wir wissen nicht, was der Job aus ihm gemacht hat. Uns haben die Ereignisse in diesem Jahr auch verändert. Jeden von uns.“
„Das stimmt“, überlegte Hope. „Vielleicht mache ich mir auch einfach zu viele Gedanken.“
„Definitiv“, stimmte Adrian ihr zu. „Ich mache jetzt Feierabend. Vielleicht solltest du das auch tun.“
„Mache ich“, sagte Hope. Sie wollte nur noch die Einstellungen an ihrem Computer überprüfen, den Samuel ihr im Laufe des Tages in ihrem neuen Büro installiert hatte. „Wir sehen uns dann morgen.“
Hope fuhr den PC hoch und versuchte, sich dabei bequem im Sessel zu positionieren. Wie immer, wenn sie nur kurz etwas nachsehen wollte, gestaltete sich diese Kürze zu einer ausgedehnten Computersitzung. Als mit Wucht die Tür aufgerissen wurde, war Hope vollkommen verdattert.
Heute in schwarzem Ledermantel mit großen, goldenen Stickereien auf Rücken, Armen und am Saum gekleidet, stürmte Mrs. Harper ins Büro. Mit zornesgerötetem Gesicht kam sie gerade noch rechtzeitig vor Hopes Schreibtisch zum Stehen.
Hope blieb nicht einmal die Zeit, den Mund zu öffnen, da prasselte eine wüste Schimpftirade wie eisige Hagelkörner auf sie herab.
„Wie können Sie es wagen, die persönlichen Habseligkeiten meines Mannes, die jetzt mein Eigentum sind, ohne mein Einverständnis lieblos in Kartons zu werfen? Das ist ja wohl die Höhe! Was bilden Sie sich eigentlich ein, wer Sie sind? Als er noch lebte, da haben Sie ihn ausgenutzt und er war so dämlich, auf Sie hereinzufallen, Sie elendes Flittchen!“
Hope platzte beinahe vor Wut. „Ich glaube, es war eher dämlich von ihm, dass er auf Sie hereingefallen ist!“
„Wie bitte?“, schrie Mrs. Harper mit überschlagender Stimme und schnappte stoßweise nach Luft, so dass ihre aufgespritzten Lippen wie das vorstehende Maul eines Fisches auf dem Trockenen wirkten. Wie sie sich aufführte, hatte sie nichts mehr mit der Königin der Nacht gemein. Diese wahrte wenigstens ihre Würde. „Das ist ja wohl die Höhe. Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren, darauf können Sie sich verlassen! Solch eine Dreistigkeit muss sich eine arme Witwe wohl kaum gefallen lassen!“
Mit wehendem Mantel fuhr sie herum und raste wie eine Furie aus dem Zimmer.
Noch ehe Hope das Ausmaß dessen, was eine Beschwerde dieser unverfrorenen Dame bei Chief Rice ausrichten konnte, abschätzen konnte, war Mrs. Harper auch schon wieder zurück. In Begleitung des Chiefs höchstpersönlich. Für gewöhnlich dauerte es Tage, bis Solomon Rice einen Termin freihatte, doch offenbar war es ihm eine besondere Herzensangelegenheit, Hope so schnell wie möglich aus ihrem Amt zu entheben.
„Hier sehen Sie, Chief“, sprudelte Mrs. Harper, die jetzt eine mitleidssuchende Miene aufgelegt hatte. „Alles weg. Eigenmächtig hat Ihre Detective die wertvollen Erinnerungen an meinen Mann ohne Rücksicht auf mögliche Schäden, die zerbrechliche Dinge nehmen könnten, in Kisten gesteckt. Und als ich sie höflich darauf hingewiesen habe, dass dies ein unangebrachtes Verhalten sei, war diese unverschämte Person sogar noch in der Lage, mich zutiefst zu beleidigen.“
Hope traute ihren Ohren nicht. Ungläubig schüttelte sie den Kopf und erklärte zu ihrer Verteidigung: „Der höfliche Ausdruck, den Mrs. Harper mir gegenüber gebraucht hat, war Flittchen.“
„Was unterstellen Sie mir?“, rief Mrs. Harper konsterniert. „Wertester Chief, nun legt sie mir sogar noch Worte in den Mund, die niemals über meine Lippen kommen würden.“
„Genug“, sagte Rice bestimmt. „Sehen Sie, Miss Cromworth, das genau ist der Grund, warum ich Frauen in Führungspositionen nicht ausstehen kann. Ständig gibt es nur Probleme. Ich hatte Ihnen ja bereits eine Bewährungsfrist angekündigt. Sie sind gerade auf dem besten Weg, dieses Büro schneller zu räumen als Sie es bezogen haben. Das ist meine erste und letzte Verwarnung. Ich werde diesen Zwischenfall in Ihrer Akte vermerken.“
Dass der Chief sie vor den Augen und Ohren dieser widerwärtigen Person zurechtwies und herabwürdigte, übertraf wirklich alles. Hope war den Tränen nahe. Der Zorn über diese Ungerechtigkeit eines offensichtlich abgekarteten Spiels war einfach zu groß. Ich will hier weg. Weit weg. Ihr könnt mich alle mal!
„Mrs. Harper, selbstverständlich wird Cromworth für die Kosten dessen aufkommen, was in ihrem eigenmächtigen Handeln an Ihrem Eigentum zu Schaden gekommen ist.“ Die Worte zogen an Hope vorbei, ohne dass sie sie noch wirklich zur Kenntnis nahm. „Ich weiß, dass das den ideellen Wert des Vermächtnisses Ihres Mannes niemals aufwiegen kann, aber betrachten Sie es als kleine Entschädigung von unserer Seite. Sollte es in Zukunft noch einmal zu neuen Vorfällen dieser oder ähnlicher Art kommen, dann zögern Sie nicht, mein Büro aufzusuchen. Ich wünsche einen schönen Abend.“
Nachdem er aus dem Zimmer und außer Hörweite verschwunden war, setzte Mrs. Harper ein triumphierendes Lächeln auf, bei dem sie die Eckzähne wie Reißwerkzeuge bleckte.
Hope schaltete den Computer aus, ohne ihn herunterzufahren. Sie verspürte nicht die geringste Lust, noch länger unbeobachtet und ohne Zeugen an ihrer Seite in einem Raum mit dieser falschen Schlange zu sein. In Windeseile packte sie ihre Aufschriebe zusammen und erhob sich. Mochte Mrs. Harper doch in Conrads ehemaligem Büro versauern! Jedenfalls würde sie sich nicht die Blöße geben, auch noch in ihrer Gegenwart in Tränen auszubrechen.
Sie wollte gerade an der Frau vorbeieilen, da packte Mrs. Harper sie mit festem Griff am Arm. Hope fuhr herum und blickte direkt in die kalten, grünen Augen. „Wagen Sie es ja nicht, zur Testamentseröffnung meines Mannes zu erscheinen, junge Lady. Das will ich Ihnen nur geraten haben.“
Mit einem energischen Ruck riss Hope sich los. Sie war nicht in der Lage, eine entsprechende Antwort zu formulieren, sie wollte nur noch möglichst schnell hier raus und möglichst viel Distanz zwischen sich und diese unangenehme Dame bringen. Mit eiligen Schritten hastete sie den Flur entlang, nahm zwei Treppen auf einmal und rannte die letzte Teilstrecke im Parkhaus zu ihrem Wagen. Während ihr die Tränen jetzt in Strömen über die Wangen liefen, beschloss Hope, dass sie heute Abend nicht nach Hause fahren würde und lenkte das Auto stattdessen auf den Highway 49 in Richtung Süden.
Kapitel 3
Montag, 09. November, 20.10 Uhr
Vor dem kleinen, hellgelben Haus in der Chester Street in Alexandria parkte Hope ihren Wagen mit den Reifen auf dem Bürgersteig. In diesem Viertel der etwa einhundertzwanzig Meilen südlich von Shreveport ebenfalls am Red River gelegenen Großstadt war die Welt noch in Ordnung. Die englischen Rasen in den von weiß gestrichenen Holzzäunen umgebenen Vorgärten strahlten in saftigem Grün, obwohl es diesen Winter für Louisiana untypisch kalte Temperaturen hatte.
Hopes Mutter liebte Himbeeren, deshalb wirkte der Vorgarten von Haus Nummer Zwanzig kahler als die übrigen in dieser Straße, in denen pompöse Winterblüher in ihrer bunten Pracht miteinander konkurrierten. Ellen Cromworth hatte die Himbeersträucher