Neubeginn
Für K. E. F.
Nothing lasts forever
even cold November Rain.
(Guns ’N Roses)
Prolog
„Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Aber ich glaube, es ist vielmehr so, dass man mit der Zeit einfach lernt mit dem Schmerz zu leben.
Die Vergangenheit hinter sich zu lassen, ist ein unmögliches Unterfangen. Irgendwann holt sie einen immer ein, ganz gleich wie schnell und wie weit man floh.
Ich bin also nach langer Zeit wieder zu Hause und meine Vergangenheit ist präsenter denn je. Ich lebe mit ihr, lebe mit dem Schmerz. Jeden Tag aufs Neue.
Die einen sagen, aus Fehlern lernt man, und die Erlebnisse, die wir machen, formen uns und lassen uns zu dem Menschen werden, der wir sind. Aber was ist, wenn ich dieser Mensch überhaupt nicht sein möchte?
Die anderen sagen, dass man nicht aufgeben soll. Alles folgt einem Plan und die Situationen, in die das Leben uns stellt, müssen wir meistern. Dann wird alles besser.
Wie ich mir die Zukunft vorstelle, kann ich nicht sagen. Ich war nie gut im Lernen oder Meistern.
Ich muss damit leben, dass ich einen Menschen auf dem Gewissen habe, dass ich sie umgebracht habe, dass sie nie mehr zurückkehrt und dass sie vielleicht noch am Leben wäre, wenn es mich nicht gäbe.
Das ‚vielleicht‘ kann ich streichen.
Ob ich mir wünsche, an ihrer statt gestorben zu sein?
Jede Minute meines armseligen Lebens und mit jeder Faser meines müden Körpers!
Doch dieser Wunsch kann niemals Realität werden. Wir können unsere Rollen nicht tauschen, dem Schicksal kein Schnippchen schlagen, auch wenn wir uns noch so sehr danach sehnen. Wir sind, wer wir sind und wie die Vergangenheit uns geformt hat. Wir leben mit dem, was wir sind und was unsere Entscheidungen aus uns gemacht haben. Damit müssen wir zurechtkommen. Zumindest in dieser Hinsicht behalten sie Recht, die klugen Sprichwörter und die klugen Menschen, die diese klugen Ratschläge parat halten.
Ich bin also zurück.
In der Stadt der Sünde.
Ein Scheiß-Gefühl!
Warum ich Shreveport Stadt der Sünde nenne? Weil ich sie kenne!
Nicht die atemberaubenden Wolkenkratzer in der City oder die idyllisch angelegten Parks, in denen glückliche Kinder aus intakten Familien auf Spielplätzen toben. Nicht die mondänen Kaufhäuser in der Shopping Mall oder die faszinierende Fensterfront des Flughafens. Ich meine auch nicht den Golfplatz im Norden der Stadt, an dem sich jeden Sommer die High Society zum Spielen trifft.
Dort, wo ich aufgewachsen bin, in den tiefen Abgründen dieser Stadt, habe ich ihr wahres Gesicht kennengelernt. Ihre angsteinflößende, einschüchternde Fratze, bereit jeden zu verschlingen, der sich nicht zur Wehr zu setzen weiß. Meinen Dad… meine kleine Schwester und schließlich auch meine Mom. Wobei diese sich noch am besten mit dieser Stadt anfreundete, nämlich indem sie ein Teil dieser unendlichen Flut der Sünde wurde…
Themawechsel.
Ich denke nicht mehr an sie. Ich erlaube mir nicht, an sie zu denken, seit ich sie auf dieser verschmutzten, verlöcherten, vermaledeiten Matratze gesehen habe, den Schwanz eines fremden Mannes im Mund, den eines weiteren im Arsch…
Ich kann es mir überhaupt nicht leisten, an sie zu denken, denn ich muss leben.
Ganz gleich, wie schwer mir das fällt.
Besonders seit…
Nein, auch daran darf ich momentan nicht denken.
Irgendwann ja. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, an dem ich die Stärke besitze, mit dem fertig zu werden, was sich im letzten halben Jahr zugetragen hat. Was ich getan habe. Und was nicht.
Ich verschließe meine Gefühle zu einer Kugel und stelle sie in irgendeinem dunklen Winkel meines Gehirns ab. Das funktioniert, weil sie genauso dunkel sind, fallen sie dort nicht auf. Ich bin verdammt gut darin, meine Gefühle zu verbergen. Das ist eines der Talente, die mich diese Stadt gelehrt hat.
Menschen sterben, weil der Tod Teil des Lebens ist. Wieder ein so kluger Spruch. Doch manchmal lassen sie etwas zurück, das durch ihren Tod keine Überlebenschance hat; es sei denn, es hat das nahezu unmögliche Glück, anderweitig Hilfe zu erhalten.
Bei mir war das leider nicht der Fall.
Schiefe Bahn.
Taschendiebstahl.
Kleinere Überfälle.
Drogen.
Die Gesellschaft erwartet nichts anderes von einem Menschen mit meiner Vergangenheit. Ich erwartete nicht anderes von mir. Und diese Stadt fand ein leichtes Opfer, an dem sie sich säugen konnte. Wie eine grauenvolle Bestie, die Spaß daran empfindet, ihr Opfer immer nur bis kurz vor der Bewusstlosigkeit zu quälen und es dann wieder soweit sich selbst regenerieren lässt, dass das Foltern wieder Freude macht.
Trotz allem habe ich es geschafft.
Weil ich ein anderer Mensch geworden bin.
Ein vollkommen anderer.
Innerlich.
Äußerlich.
Namentlich.
Ich habe sie verlassen, meine Peinigerin, die mich immerzu kleinhalten wollte, weil das das Prinzip ist, auf dem sie aufgebaut ist. Die Stadt der Sünde.
Ich blickte nicht zurück. Nicht einen einzigen Tag. Keine Minute.
Ich war frei. Die Welt lag mir zu Füßen. Alles schien möglich, alles erreichbar. Plötzlich lernte ich Gefühle kennen, die ich nicht verstecken und verdrängen wollte.
Erfolg, Glück, Freude, Heiterkeit, Unbeschwertheit. Anerkennung. Ich war gut, in dem, was ich tat.
Und dann kam sie. Die Liebe. Und sie erwies sich als noch grausamer als Shreveport es je zu mir gewesen war, denn ohne jede Vorwarnung riss sie mir mit eisigen Klauen das pochende Herz aus der Brust.
Die Zeit ist meine einzige Verbündete. Auch wenn ich weiß, dass sie, entgegen dem, was der Volksmund ihr zugesteht, nicht alle Wunden zu heilen vermag, so macht sie es doch einfacher, mit dem Schmerz zu leben.
Nachdem meine Schwäche mir einmal mehr das Genick gebrochen hatte, wurde ich versetzt. An sich nicht schlimm. Ich hätte ohnehin darum gebeten, gehen zu dürfen. Doch nun finde ich mich wieder hier, wo alles seinen Anfang nahm. Vor achtunddreißig Jahren…
Ich weiß nicht, wie viele Leben ich habe und wie oft das Schicksal mich noch steinigen will, doch ich beginne zu begreifen, dass diese Stadt und ich nicht miteinander können. Aber auch nicht ohne einander. Sie ruft mich. Wir sind uns zu ähnlich. Beide leben wir mit der Sünde, die wir nicht loswerden können und selbst wenn es eine Möglichkeit gäbe, die Vergangenheit auszulöschen, würden wir es tief in unserem Inneren nicht wollen.
Diese Stadt hat mich geformt und nun ist es an der Zeit, dass sie von mir geschliffen wird. Endlich habe ich den Mut gefunden, mich ihr zu stellen. Von Angesicht zu Angesicht.
Denn letzten Endes bin ich jetzt nicht mehr vollkommen allein.
Diese Tatsache macht mir zwar immer noch Angst, doch sie erfüllt mich gleichzeitig auch mit großer Hoffnung.
Angst in die dunkle Nische!
Hoffnung in den Vordergrund!
Vielleicht ist dies meine Chance, diese Stadt in ihren anderen Schattierungen kennen zu lernen. Das glitzernde Blau des Teichs, an dem glückliche Eltern mit ihren glücklichen Kindern Enten füttern. Das saftige Grün der Bäume im Park, in deren Schatten