»Sie gehört mir!«, schreit einer von beiden.
»Mir!«, brüllt der andere.
Die Gesichter verändern sich, je mehr die Teenager in Streit geraten. Sie haben keine menschlichen Nasen mehr, sondern Schnäbel.
»Sie gehört mir«, faucht es aus einem Schnabel und wiederholt wird so fest an ihr gerissen, dass sie meint, gleich zerbersten zu müssen. Einer wird gewinnen. Aber sie wird die Verliererin sein, denn sie fühlt auf einmal, wie ihre Arme erlahmen und ihren Geist aufgeben. Im gleichen Moment fällt sie gemeinsam mit den Männern nach unten.
Doch was ist das? Die Jungs entwickeln unerwartet Adlerschwingen an ihren Armen und segeln durch die Luft, wobei sie sich schnell von ihr entfernen. Sie versucht nun selbst wie ein Vogel zu flattern, aber da ist nichts, was ihr Auftrieb verleiht! Ihre Arme sind noch immer wie betäubt. Sie besitzt keine Flügel, die sie vor dem Aufprall bewahren werden. Und die Straße kommt immer näher. Krach!
Rebecca erschrak, auf dem Bauch liegend, und richtete sich dösig in ihrem Bett auf. Ihre Augen brannten, als sie die Lider öffnete. In ihrem Kopf und Becken hämmerte es. Die Bettdecke lag auf dem Fußboden. Offenbar hatte sie sie von sich gewirbelt, als sie wie ein Vogel durch die Lüfte fliegen wollte. So wie es die beiden Fremden getan hatten.
Was für ein wirrer Traum.
Rebeccas Blick ging Richtung Wecker. Der zeigte ihr an, dass sie gute anderthalb Stunden geschlafen hatte. Draußen war es bereits hinreichend hell, sodass sie aufstand und in ihrem Schlafzimmer die Jalousien herunterließ, um das Zimmer vollständig zu verdunkeln. Dann stieg sie erneut ins überhitzte Bett und verschlief den Tag.
Kapitel 2
Was war das bloß für ein Geschnatter? Noch schlimmer als an ihrer alten Schule!
Schüchtern betrat Rebecca die Aula des Sportgymnasiums. Hier sah es aus wie in einem riesigen Kinosaal. Die Stühle waren mit rotem Polster bezogen. Eine gigantische Bühne, die an den Rändern mit schweren, roséfarbenen Vorhängen umsäumt war, bot einen imposanten Anblick. Sie erkannte den Schulleiter, der am Stehpult stand und mit Jemandem im Gespräch versunken war. Dabei fuchtelte er immer wieder mit den Armen in der Luft herum und hielt das Mikrofon zu. Mayer trug einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und hellblauer Krawatte. Rebecca hatte den Direktor nur bei ihrem Einstellungsgespräch kennenlernen dürfen. Sie schätzte ihn auf Ende fünfzig, was vor allem an seiner Glatze lag, die durch die Scheinwerfer der Bühnenbeleuchtung wie eine Bowlingkugel glänzte.
Rebecca nahm am Rand der dritten Stuhlreihe Platz und schaute sich interessiert ihre neuen Kolleginnen und Kollegen an. Sie befand sich zwar an einer Sportschule, doch die meisten der Männer und Frauen, die immer zahlreicher in den Saal strömten und die Lautstärke damit weiter anschwellen ließen, erschienen ihr nicht besonders trainiert zu sein. Die Schüler würden es ohne Zweifel sein, denn immerhin standen mehrere Wochenstunden Sport im Stundenplan.
»Entschuldigung, darf ich mal?«
Ein Mann, wohl zehn Jahre älter als sie, zwängte sich an ihr vorbei. In der Mitte der Stuhlreihe angekommen, traf er auf einen älteren Herrn, der ihm kameradschaftlich die Hand reichte und ihn freudestrahlend begrüßte.
Als sich der Ankömmling auf seinem Stuhl niederließ und seine Schreibsachen auspackte, warf er einen verstohlenen Blick zu Rebecca hinüber und lächelte sie an. Dann drehte er sich zu dem älteren Kollegen um, der ihn in ein Gespräch verwickelte.
Sie betrachtete den Mann, der eben an ihr vorbeigehuscht war: Er trug ein graues, kariertes Hemd und eine blaue Jeans. Beim Sitzen zeichnete sich ein kleiner Bauchansatz ab. Sein rundliches Gesicht mit den weichen Konturen erinnerte Rebecca an das von Paul. Nur dass ihr neuer Kollege kurze braune Haare hatte und eine Brille mit dicker Umrandung trug. Irgendwie wirkte der Mann von seinen Bewegungen und von seiner Mimik her seltsam unsymmetrisch, ohne dass sie sagen konnte, woher dieser Eindruck rührte.
Es war mittlerweile kurz vor 9 Uhr und noch immer fluteten massenhaft Menschen die Aula. Das mussten locker achtzig Augenpaare sein, die Rebecca gleich mit ihren neugierigen Blicken durchbohren würden. Das Geplapper der gut achtzig Münder erfüllte den Saal. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten, weil sie die Lautstärke nicht ertrug. Andererseits: dass die Schule so groß war, würde von Vorteil sein. Hier konnte sie problemlos in der breiten Masse untertauchen: Herkommen, Job erledigen, Schule verlassen. Hier musste sie keine Freundschaft heucheln. Oberflächliche Gespräche in den Pausen würden ausreichen, um wahrgenommen zu werden.
Mayer fummelte am Mikrofon herum, bevor er sich räusperte und die Anwesenden freundlich, fast feierlich begrüßte. Die Aula sollte nur der Umrahmung dienen. Die eigentliche Lehrerkonferenz wurde an einem anderen Ort abgehalten. Dies realisierte Rebecca, als sie den Ablaufplan für den heutigen Tag studierte.
»Ich möchte Sie, möchte euch, liebe Kolleginnen und Kollegen, recht herzlich an diesem ersten Tag in der letzten Woche der Sommerferien begrüßen. Ich freue mich, dass ich Sie und euch gesund wiedersehen darf.« Applaus setzte ein. Rebecca ließ ihren Blick durch den Saal schweben. Die Mehrzahl der anwesenden Personen war männlich und älter. Im gleichen Moment schaute sie der Kollege, der sich an ihr vorbeigezwängt hatte, an und wieder huschte ein Lächeln um seinen Mund.
»Wir dürfen in diesem Schuljahr drei neue Kolleginnen und Kollegen begrüßen.«
Rebecca rieb sich die feuchten Hände an ihrem Rock ab. Gleich würde sie aufstehen müssen, denn schon rief Mayer den Ersten auf, der sich prompt erhob und einmal winkte, um sich bemerkbar zu machen. Mayer gab ein paar Personalien bekannt, die Rebecca sofort wieder vergaß, und schaute danach auf das Pult, um seine Unterlagen zu sortieren.
»Wir dürfen als Nächstes Rebecca Peters in unserer Runde willkommen heißen.« Mayer zeigte mit der Hand auf sie. Rebecca stand auf und schaute sich scheu im Saal um. Niemanden würdigte sie länger als eine Sekunde eines Blickes. Das, was sie wahrnahm, waren lediglich die überwiegend grau melierten Haare der Anwesenden. Mehr nicht. Sie winkte verhalten, bevor sie ermattet in den Stuhl zurückfiel. Hoffentlich sah das Lächeln nicht zu unsicher und versteift aus.
»Frau Peters wird in diesem Schuljahr als Schwangerschaftsvertretung für Frau Fritsche einspringen. Sie hat bis vor drei Jahren als Lehrerin für Deutsch und Kunst an einer anderen