Sie nannte ihn einen Schatz und drückte sich an ihn.
Er nahm ihren Kopf zart in beide Hände und näherte sich ihren Lippen, da klingelte sein Handy. Auweia, dachte er, dieses blöde Gerät hätte ich ausstellen sollen. Weil das Klingeln nicht aufhörte, nahm er das Gespräch an.
Aufgebracht fragte seine Mutter: „Wo treibst du dich herum? Du bist doch nicht bei Oliver, denn der wollte dich gerade besuchen.“
„Nei-ein“, stammelte er. „Unterwegs habe ich mich anders entschieden. Ich bin zur Boutique Isabel gefahren, weil ich ein Poloshirt kaufen wollte, eines von den besonders weichen, die Frau Gander hereinbekommen hat.“
„So, so“, sagte seine Mutter, dann beendete sie das Gespräch.
Grinsend blickte er zu Isabel, die neben ihm in ihren Rock schlüpfte.
Wenn es um Liebe gehe, seien kleine Lügen erlaubt, behauptete sie. Schmunzelnd nahm sie das Shirt, legte es zusammen und steckte es in eine weiße Papiertüte, auf der in lila Farbe ‚Boutique Isabel‘ stand.
Wie viel das Poloshirt koste, fragte er.
Das sei ein Geschenk. Wenn seine Mutter wissen wolle, wie viel er dafür bezahlt habe, solle er zwanzig Euro sagen. Verschworen lächelte sie ihm zu.
Nun musste auch er lachen. Danke, danke. Ob er morgen Abend wieder kommen dürfe, fragte er.
Aber sicher, sagte sie.
Er verabschiedete sich mit einer Umarmung und einem Kuss.
Sie führte ihn zum Seitenausgang, der sich in ein Treppenhaus öffnete. An diese Tür solle er morgen Abend dreimal klopfen.
„Dreimal“, wiederholte er, dann huschte er hinaus.
Zuhause erwartete ihn seine vorwurfsvoll dreinblickende Mutter. „Lüg‘ mich nicht an; da steckt doch ein Mädchen dahinter.“
„Nein, ich habe wirklich in der ‚Boutique Isabel‘ ein Poloshirt gekauft.“ Seine Worte unterstreichend holte er das Shirt aus der Tüte und zeigte es ihr.
Sie nahm es in die Hand. „Das fühlt sich wirklich sehr weich an“, sagte sie. Dann fragte sie nach dem Preis. Zwanzig Euro hielt sie für günstig. Lächelnd äußerte sie: „Vielleicht kaufe ich mir auch so ein feines Teil.“
In der Nacht träumte er von Isabel. Was für eine fantastische Frau. Sie lachte gern und schien immer gut gelaunt zu sein. Lachen machte sie schön. Offenbar hatte sie den Tod ihres Mannes gut überstanden. Ihr Mann sei ein ‚wilder Hund‘ gewesen, hatte Siegfried im Friseursalon aufgeschnappt; kurz nach der Hochzeit sei er mit dem Motorrad tödlich verunglückt. Anschließend habe Frau Gander mit einer Frau zusammengelebt. Sie sei eine Lesbe, meinte seine Mutter.
Der nächste Tag verging für ihn schleppend langsam. Er hätte französische Vokabeln lernen sollen, dachte aber ständig an Isabel. Gegen Abend sagte er zu seiner Mutter, er brauche Bewegung, wolle noch ein bisschen Rad fahren. Nach einem Ciao radelte er hinaus in einen windigen Spätsommerabend. Auf halber Strecke stoppte er am Stadtpark, ging zu einem versteckt gelegenen Rosenbusch und schnitt mit seinem Taschenmesser eine rote Rose ab. Es wird mich doch niemand beobachtet haben, hoffte er, als er die Rose in der Brusttasche seiner Jacke verbarg.
Heute stellte er sein Fahrrad am Supermarkt ab und legte die letzten hundert Meter bis zur Boutique zu Fuß zurück. Während er dreimal an die Tür des Seiteneingangs klopfte, spürte er wie sein Herz hart gegen seine Rippen schlug. Innen hörte er Schritte; einen Augenblick später öffnete Isabel die Tür und zog ihn in die Boutique hinein. Bevor er die Rose aus seiner Jackentasche nehmen konnte, drückte sie sich an ihn. Ihre Lippen trafen seine. Bei zärtlichen Küssen vergaß er die Rosendornen, die durch sein super weiches Shirt in seine Brust stachen. Nachdem Isabel die Umarmung lockerte, griff er in seine Brusttasche und holte eine zerquetschte Rose heraus. Die könne sie vergessen, sagte er.
Nein, widersprach sie ihm, das sei eine von Liebe erdrückte Rose, die Schönste die sie jemals bekommen habe. Danke. Sie werde diese Rose unter ihr Kopfkissen legen.
Er lachte. Platt gedrückt passe sie gut unter ihr Kissen.
Isabel lachte nicht. Es gehe ihr heute nicht gut, sagte sie; Kopfschmerzen quälten sie.
Ob er etwas für sie tun könne, fragte Siegfried.
Verbunden mit einem leisen „ja“ erschien ein Lächeln auf Isabels Gesicht, nur kurz, einen Moment lang. Vielleicht könne er mit seinen magischen Fingern ihre Schläfen massieren. Damit war er sofort einverstanden. Sie gingen hoch in ihre Wohnung, weil es dort gemütlicher war als im Laden. Auf der Treppe, die sie vor ihm hoch in den ersten Stock stieg, spannte sich bei jeder Stufe der Rock über ihren runden Po. Er hätte ihren Po gerne berührt, hielt sich aber zurück, weil sie Kopfweh hatte. Oben führte sie ihn direkt in ihr Wohnzimmer, einen luxuriös eingerichteten Raum mit hellbraunen Möbeln, einem Seidenteppich auf dem Fußboden und einer großen Zimmerpalme in einem weißen Keramiktopf. An den Wänden hingen drei abstrakte Gemälde, farbige Kombinationen, die Siegfried an Joan Miró erinnerten, dessen Werk sie gerade im Kunstunterricht besprachen. (Wochen später erzählte Isabel ihm, diese Bilder habe sie während ihrer Studienzeit selbst gemalt.)
Zwei Fenster öffneten sich auf die Fußgängerzone, in die nach der Hektik des Tages Ruhe einkehrte. Nur wenige Leute waren noch unterwegs. Ab und zu drangen ein paar unverständliche Worte oder ein Lachen hoch in die Wohnung.
Isabel bat ihn sich auf den Sessel links vom Sofa zu setzen. Kaum saß er, legte sie ein Sitzkissen vor seine geöffneten Beine und hockte sich darauf. Damit sie zwischen seinen Schenkeln Halt fand, rutschte er vor zu ihr. Zärtlich ließ er Zeigefinger und Mittelfinger von jeder Hand um ihre Schläfen kreisen. Ob es so gut sei, fragte er.
Oh ja, antwortete sie; er mache das großartig; mit diesen Fingern könne er als Heiler viel Geld verdienen. Weil er lachte, fügte sie hinzu, sie meine das ernst.
Nach etwa zwanzig Minuten hörte er auf zu massieren. Er müsse eine Pause machen, sagte er; seine Finger würden allmählich verkrampfen.
Danke, er sei ein Schatz; es gehe ihr schon viel besser. Sie könnten sich ein Weilchen auf ihr Bett legen; natürlich nur, wenn er dazu Lust habe. Und ob er dazu Lust hatte. Sie stand auf, nahm seine Hand und führte ihn in ihr Schlafzimmer, zu einem französischen Bett und einem Kleiderschrank mit Spiegeltüren. Was er sah, gefiel ihm so gut, dass er das Wort genial von sich gab. Sie zogen die Schuhe aus und legten sich in ihren Kleidern auf das Bett. Nach einem Kuss drehte sie ihm den Rücken zu und drückte ihren Po an ihn. Er solle sich eng an sie schmiegen, sagte sie; die Wärme seines Körpers tue ihr gut. Sofort legte er seinen rechten Arm um ihre Taille und zog sie zu sich. Ihr weicher Körper fühlte sich an wie ein Bad im Glück. Gerne wäre er die ganze Nacht bei ihr liegen geblieben. Bald jedoch zerstörte ein Gedanke an seine Mutter diese Illusion. Vorsichtig hob er seinen Arm von Isabels Taille.
Ob er schon gehen müsse, fragte sie.
Er hätte schon vor einer halben Stunde gehen sollen, antwortete er. Nach einem Kuss auf ihren Hals rollte er vom Bett, schnürte seine Schuhe und zog seine Jacke an.
Es sei schade, dass er sie schon verlasse, sagte sie. Traurig blickend stand sie vom Bett auf, ging auf ihn zu und gab ihm zum Abschied einen zarten Kuss. Bis morgen.
Nein, morgen Abend müsse er zum Fußballtraining, erst übermorgen könne er wieder kommen.
Okay, dann bis übermorgen.
Mit großen Schritten lief Siegfried die Treppe hinunter und hinüber zum Supermarkt zu seinem Fahrrad. Während er so schnell wie möglich nach Hause radelte, produzierte sein Gehirn unangenehme Gedanken. Was sollte er seiner Mutter sagen? Er wollte sie nicht schon wieder anlügen, aber die Wahrheit konnte er ihr nicht erzählen. Der Gedanke an einen Sturz ging ihm durch den Kopf; ja, ein paar Schrammen würden ihm aus der Bredouille helfen. In einer Kurve versuchte er absichtlich den Bordstein zu streifen,