Er diente seinem Lande nicht.
Unglück, Leiden und Irrtum bogen sein Haupt, sie entrissen seiner Wahrheit jede Kraft und seinem Dasein jeden Einfluss.
Die Edlen im Lande kennen ihn nicht und das Volk spottet seiner.
Welcher von beiden, meinst du, Herr, hat die Wahrheit fürs Volk wirklich gefunden?
Die Welt wird augenblicklich antworten:
Der Müdling ist ein Träumer und die Wahrheit ist auf der Seite des Hochgeborenen.
Aber dieser urteilte nicht also.
Da er von dem unablässlichen Forschen des Müdlings nach Wahrheit fürs Volk hörte, ging er in seine Hütte und fragte ihn Was hast du gesehen?
Da erzählte dieser dem Edlen den Gang seines Lebens und der Edle entwickelte jenem den Zustand vieler Verhältnisse, die dieser nicht kannte.
Der Müdling ließ dem Edlen Gerechtigkeit widerfahren und der Edle gönnte den Erfahrungen des Müdlings seine Aufmerksamkeit.
Stiller Ernst war auf der Stirne von beiden, als sie schieden und auf beider Lippen lagen die Worte:
Wir meinten es beide gut.
Und wir irrten beide.
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Die Widersprüche, die in der menschlichen Natur zu liegen scheinen, wirken vielleicht auf wenige Sterbliche so gewaltsam als auf einen Menschen, dessen Lage und Umstände auf eine seltene Art zusammentrafen die Gefühle eines zwanglosen und ungebogenen Naturlebens mitten durch eine nicht anspruchslose, aber äußerst gehemmte und in einem hohen Grad unbefriedigende Tätigkeit bis an sein nahendes Alter lebhaft zu erhalten.
Jetzt sitze ich endend und ermüdet nieder und freue mich wie wohl gekränkt und in meinem Innersten verwundet des Kindersinns, mit dem ich mich selbst frage:
Was bin ich und was ist das Menschengeschlecht?
Was hab ich getan und was tut das Menschengeschlecht?
Ich will wissen, was der Gang meines Lebens, wie es war, aus mir gemacht hat; ich will wissen, was der Gang des Lebens, wie er ist, aus dem Menschengeschlecht macht.
Ich will wissen, von was für Fundamenten mein Tun und Lassen und von was für Gesichtspunkten meine wesentlichsten Meinungen eigentlich ausgehen, und unter den Umständen, unter denen ich lebe, eigentlich ausgehen müssen.
Ich will wissen, von was für Fundamenten das Tun und Lassen meines Geschlechts und welchen Gesichtspunkten seine wesentlichsten Meinungen eigentlich ausgehen und unter den Umständen, unter denen es lebt, eigentlich ausgehen müssen.
Der Gang meiner Untersuchung kann seiner Natur nach keine andere Richtung nehmen als diejenige, die die Natur meiner individuellen Entwicklung selbst gegeben: Ich kann also in derselben in keinem Stück von irgendeinem philosophischen Grundsatz ausgehen; ich muss sogar von dem Punkt der Erleuchtung, auf welchem unser Jahrhundert über diesen Gegenstand steht, keine Notiz nehmen. Ich kann und soll hier eigentlich nichts wissen und nichts suchen als die Wahrheit, die in mir selbst liegt, das ist, die einfachen Resultate, zu welchen die Erfahrungen meines Lebens mich hingeführt haben; aber eben darum werden diese Nachforschungen einem großen Teil meines Geschlechts einen ihrer Art und Weise die Sachen dieser Welt anzusehen nahestehenden Aufschluss über ihre wesentlichsten Angelegenheiten erteilen.
Vom Throne bis zur Leimhütte nimmt die Geschäftswelt wie ich weder von der Philosophie der Vorzeit noch von derjenigen der Gegenwart irgend eine Kunde; aber das Unrecht der Menschen und ihre Torheiten führen allenthalben eben die Erfahrungen, eben die Gefühle und eben die Leiden herbei, die meiner individuellen Anschauungsart der Dinge die Richtung gegeben, die sie genommen.
Ich bin überzeugt, der größte Teil der lebenden Menschen trägt die Fundamente meiner Wahrheit und meiner Irrtümer, mit meinen Gefühlen belebt, in seinem Busen und die Welt im großen steht den Gesichtspunkten nahe, von denen meine wesentlichsten Meinungen eigentlich ausgehen. Ich bin überzeugt, meine Wahrheit ist Volkswahrheit und mein Irrtum ist Volksirrtum. Das Volk spricht freilich die Grundsätze nicht bestimmt so aus wie ich sie jetzt und hier ausspreche, aber auch ich sprach dieselben nicht aus, da sie schon längst zu sichern Gefühlen in mir gereift waren. Ich trug die Frage: Was bin ich? jahrelang schwankend im Busen, bis mir endlich nach langem und langem Suchen folgende Sätze den Faden zu enthalten schienen, an welchem ich den Pfad der Natur in jeder Entwicklung des Menschengeschlechts mit Sicherheit nachspüren und ihn von seinem Anfang an bis zu seiner Vollendung verfolgen könnte.
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Die Grundlagen meiner Nachforschungen
Die Grundlagen meiner Nachforschungen
Der Mensch kommt durch die Unbehilflichkeit seines tierischen Zustandes zu Einsichten.
Seine Einsichten führen ihn zum Erwerb.
Der Erwerb zum Besitzstand.
Der Besitzstand zum gesellschaftlichen Zustand.
Der gesellschaftliche Zustand zur Macht und zur Ehre.
Ehre und Macht zur Unterwerfung, zur Beherrschung.
Unterwerfung und Beherrschung zum Adel, zum Dienststand, zur Krone.
Alle diese Verhältnisse rufen einen gesetzlichen Rechtszustand herbei.
Das gesetzliche Recht ruft der bürgerlichen Freiheit.
Der Mangel dieses Rechts führt die Tyrannei und die Sklaverei herbei, d. i. einen Zustand, in welchem die Menschen ohne gegenseitig bildende und bindende Gesetze dennoch gesellschaftlich vereinigt leben.
Ich folge dem Gang der Natur von einer anderen Seite. Ich finde in mir selbst ein Wohlwollen, bei dessen Dasein Erwerb, Ehre, Eigentum und Macht mich in meinem Innersten veredeln und durch dessen Mangel alle diese Vorzüge meines gesellschaftlichen Daseins auf Erden mich in meinem Innersten entwürdigen.
Ich forsche der Natur dieses Wohlwollens nach und finde dasselbe in seinem Wesen sinnlich und tierisch: Aber ich erkenne auch eine Kraft in mir selbst, dasselbe in meinem Innersten zu veredeln und heiße dieses also veredelte Wohlwollen Liebe. Aber auch die Liebe läuft Gefahr, durch mein Lechzen nach eigener Behaglichkeit sich in meinem Innersten zu verlieren; wenn dieses geschehen, so finde ich mich in mir selbst verödet und als eine Waise; dann suche ich mich durch die Kraft meines Ahnungsvermögens über die Grenzen alles hier möglichen Forschens und Wissens zu der Quelle meines Daseins zu erheben und bei ihr Handbietung gegen die Verödung meiner selbst in mir selbst und gegen alle Übel und Schwächen meiner Natur zu suchen.
Ich frage mich jetzt: Ist die Reihe dieser Vorstellungen richtig? Geht die Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts diesen Weg? und fasste dann jeden Hauptbegriff dieser Sätze einzeln ins Auge.
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Die Kenntnisse, das Wissen des Menschen
Die Kenntnisse, das Wissen des Menschen
Der Mensch labt sich an der Quelle seines Wissens mit reinem Wasser und wenn er sich weiter wagt, wenn er die großen Wellen der ewigen Meere durchbricht und über ihre unergründlichen Tiefen daher schwimmt, so erhebt sich sein Herz im schwellenden Busen. Einer trinkt dann auch wohl in der Brandung am Felsengestade giftigen Schaum; einer wagt sich in Untiefen, die er nicht kennt; ein anderer in den Strom, wo er Gebirge mit sich in seinen Schlund reißt; sie gehen in der Kühnheit ihrer Bestrebungen einzeln vielseitig dem Tod entgegen. Aber das Grab der Menschheit, worein unser Geschlecht ungezählt und zu Haufen hineinsinkt, sind die weiten Ebenen, wo eingezwungene Wasser zum stehenden Sumpf werden; du findest in ihrem weiten Raum keine Stelle zum Trinken, keine zum Schwimmen, keine zum Baden, aber du sinkest