Dann stirb doch selber. Dagmar Isabell Schmidbauer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dagmar Isabell Schmidbauer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746794990
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forschen. Ich konnte es nicht offiziell tun, sie war keine Verdächtige. Trotzdem war es merkwürdig, dass es sie überhaupt nicht gab.

      Donnerstag 22.8.

      30. Szene

      Klara

      Um Frau Morgenroth zu provozieren, hatte ich sie gefragt, wo Harry Kaufmann an seinem letzten Tag hin wollte, das war natürlich falsch. Ich musste wissen, wo er herkam, wie er seinen Tag verbracht hatte. Bis zur Beerdigung hatte ich noch etwas Zeit, darum ging ich zu Obermüller. Ich traf ihn im Gang mit einem Ladendieb am Schlafittchen. Während wir nebeneinander herliefen, fragte ich nach den Gegenständen, die im Auto gefunden wurden.

      „Muss das jetzt sein?“ Ich nickte. Der Junge war vielleicht dreizehn, klaute schon morgens vor der Schule. Er trug eine Jacke mit vielen Taschen und eine dieser übergroßen Hosen, bei denen ich immer den Verdacht hatte, es stecke noch eine Windel drin. Aus einer der Taschen führte ein Kabel direkt zu seinen Ohren. Kaum hatte er das Zimmer betreten, begann er im Takt zu wippen, nicht ansprechbar für alles um ihn herum. Bum, bum, bum machte es dumpf und laut, es war scheußlich.

      „Hör mal“, sagte Obermüller und nahm mich zur Seite. Der Junge knatschte einen Kaugummi und blätterte völlig ungeniert in einer Akte herum. „Wir waren wirklich froh, dass du uns geholfen hast, aber heute ist die Beerdigung, der Wagen ist noch nicht gefunden, die Zeugin mit den blonden Haaren weiterhin verschwunden, und wir haben andere Sorgen!“ Er riss dem Jungen die Akte weg und drückte ihn auf einen Stuhl.

      „Eben, also wo?“

      Obermüller deutete auf ein Fach im Rollschrank und seufzte.

      „Danke“, sagte ich freundlich. Soll er doch froh sein.

      In meinem Zimmer packte ich alles aus, eine Brieftasche, ein Päckchen Kaugummi und einen Straßenatlas. Es half mir nicht weiter. Ich musste noch einmal zu Frau Morgenroth. Leider war die viel schlauer als mir lieb war. Mit dummen Menschen konnte man eine Weile spielen und sie so verwirren, dass sie am Ende alles zugaben. Aber die Morgenroth durchschaute mich. Ich sah auf die Uhr. Verdammt, jetzt musste ich mich aber beeilen.

      31. Szene

      Magdalena

      „Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus“, rief der Pfarrer feierlich in den Raum. Ich saß in der zweiten Bank, zwischen Julia und Sylvia und konnte vor lauter Schmerz und Verzweiflung kaum atmen. Der Sarg war über und über mit Blumen geschmückt und vor der Tür stapelten sich die Kränze.

      „Lamm Gottes!“, rief der Pfarrer und erhob seine Hände zum Himmel. Der schwarze Hut mit dem dezenten Schleier, den mir Jutta schließlich gebracht hatte, gab mir ein wenig Deckung; in meiner geräumigen Tasche häuften sich die verheulten Taschentücher.

      „Heilige Maria Mutter Gottes, voll der Gnaden!“ Die Kaufmanns saßen in der ersten Reihe. Ich warf einen Blick auf Bernhard, der erstaunlich sicher seine Haltung bewahrte. Gelernt ist eben gelernt. Neben ihm saß lässig ein großer Mann in dunklem Anzug, weißem Hemd und durchgestuften, dunklen Haaren, der angestrengt seine Umgebung musterte und sich scheinbar nur widerwillig an dem ganzen Auf und Ab der Trauergemeinde beteiligte. Wahrscheinlich ein Bodyguard, obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was Bernhard dazu veranlassen sollte, sich in Gefahr zu wägen.

      „Wir sind heute hier zusammen gekommen, um...“ Und wenn schon, Harry hätten selbst zehn Bodyguards nicht helfen können.

      „...viel zu früh wurde er aus unserer Mitte gerissen!“ Sylvia schluchzte auf, und ich drückte ihr schnell die Hand.

      „Vater unser im Himmel!“ Sie registrierte es gar nicht.

      „Dein Wille geschehe!“ Warum Harry, warum? Auf der Rückenlehne der Bank vor mir stand: Gott war hier! Wenn er hier war, wenn er Harry geleitet hat, warum hat er ihn dann nicht umgeleitet? Die Ministranten schwenkten das Weihrauchfass, und mir wurde schlecht. Ich hasse Weihrauch! Ich hasse Beerdigungen! Ich wollte Harry doch nur lieben, für immer und ewig! Seine Mutter war sehr still, ich konnte nicht ergründen, ob sie überhaupt bei der Sache war. Still betrachtete ich ihren Hut und die zierlichen goldenen Ohrringe. Plötzlich hielt mir Julia ein Opferkörbchen hin. Wir waren gerade zum Gebet aufgestanden. Verdutzt hielt ich es in der Hand und starrte hinein. Es lagen schon etliche Geldscheine drin. Vielleicht können wir ihn ja freikaufen, dachte ich und schaute auf die mitgelieferten Sterbebildchen. Es war ein Ausschnitt. Ich hatte das Bild nach einer erfolgreichen Jagd auf einen Oryx in der Savanne Namibias gemacht. Damals hatte Harry seinen Sieg errungen, den Sieg über einen fahlbraunen Oryxbock. Aus seinen Augen leuchtete Stolz, denn der Oryx galt als hartes, mutiges Wild, dass sich seinem Jäger auch mal entgegenstellte, um ihn auf seine langen Hörner zu nehmen. Aber Harry blieb der Sieger, damals, als er noch lebte. Doch jetzt war er tot. Krampfhaft hielt ich das Körbchen fest und starrte vor mich hin, bis Julia sanft meine Finger löste und es nach hinten weiterreichte. „Lamm Gottes, in Ewigkeit. Amen!“

      32. Szene

      Magdalena

      Der Gang über den Friedhof glich einem Spießrutenlauf. Es war schrecklich heiß und nach der Kühle in der Kirche kaum zu ertragen. Überall standen Leute, die mich beobachteten. Mit letzter Kraft setzte ich Fuß vor Fuß. Warf einen roten Rosenstrauß auf den dunklen Sargdeckel und hielt für einen Moment stille Andacht für Harry. Als mir klar wurde, dass er von diesem Zeitpunkt an für immer aus meinem Leben verschwunden war, ohne eine Hoffnung auf Rückkehr, überkam mich eine solche Verzweiflung, dass ich nichts sehnlicher wünschte, als mich gleich zu ihm zu legen.

      Ich wollte sterben, hier und jetzt und für immer und ewig, und ohne mein Leid länger ertragen zu müssen. Aber man ließ mich nicht. Eine starke Hand fasste nach mir, bevor ich ganz zu Boden gehen konnte und zog mich an sich. Es war Bernhard. Die Art, wie er mich hielt, erinnerte mich an Harry und das allein tröstete mich mehr als seine Worte.

      „Du musst jetzt ganz stark sein, ja“, sagte er und streichelte meinen Rücken. „Du darfst jetzt nicht aufgeben, ja!“ Er drückte mich sanft und im nächsten Moment blitzte eine Kamera auf. Entsetzt machte ich mich los.

      Mir war heiß und mein Kopf schmerzte. Um mir Abkühlung zu verschaffen, wollte ich meine Jacke öffnen. Ich nestelte an den großen Knöpfen herum, ohne sie jedoch aufzubekommen. In diesem Moment trat Jutta zu uns, ergriff meine Hand, die stark zitterte, und schob mich in den Schatten einer großen Tanne. Oder hatte sie mich gar durchschaut? Meinen Versuch, Harry doch noch Gelegenheit zu geben, in meinen Körper zu schlüpfen?

      Ich schaute zum Himmel, er war strahlend blau, mit einer einzigen gemütlichen Schäfchenwolke über mir, deren Umrisse mich entfernt an einen liegenden Menschen erinnerten. Ich ließ von meinen Knöpfen ab, es war unmöglich, Harry eine Chance zu geben. Letztlich glaubte ich auch nicht wirklich an eine solche Möglichkeit, und die Vorstellung, dass Harry da oben auf einer watteweichen Wolke über den Himmel schwebte und auf mich herunterschaute, gefiel mir ohnehin besser.

      Während wir Harry das letzte Geleit gaben und uns anschließend am Grab versammelten, saß der Mann im dunklen Anzug wie ein falsch platziertes Mitglied im Schatten und langweilte sich. Mir war nicht ganz klar, wofür Bernhard so einen Mann überhaupt brauchte, bis er auf ein Zeichen seines Chefs herüberkam, ohne große Worte den Weg frei machte und die Wagentür öffnete. Erleichtert sank ich in das dunkelgraue Polster. Meine Augen waren leer geweint und ich wollte nur noch nach Hause. Bernhard tat mir den Gefallen.

      Vor meiner Wohnungstür sah ich ihn bittend an. „Willst du vielleicht ...“, stotterte ich. Da schob sich ein vorsichtiges Lächeln in sein Gesicht und er nickte. „Mir ist jetzt auch nicht nach Rummel“, sagte er und folgte mir neugierig in die Wohnung. Kaum war er durch die Tür, da strafften sich seine Schultern und sein Gesicht wurde zu einer Maske. Zu gern hätte ich gewusst, was in ihm vorging in diesem Moment. Im Hause Kaufmann gab es nur echte Eiche rustikal, die hält ein Leben lang und lässt sich anschließend noch an die nächste Generation weiter vererben, so viel wusste ich, aber